Über den jüngsten Verteilungsbericht des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts WSI wurde in allen großen Medien berichtet. Darunter gab es auch Stimmen, wonach die Feststellung zunehmender Armut bei wachsendem Reichtum falsch sei. Gabor Steingart, Medienunternehmer und Gründer des Internetportals The Pioneer. meinte, die Gewerkschaft folge damit der „überholten“ marxistische Verelendungstheorie. Mit der Aussage, die soziale Spaltung habe sich in Deutschland vertieft, wiederhole das WSI den Irrtum der Armutsforscher jedes Jahr aufs Neue. Die Gewerkschaften ließen sich mehr von Empathie als von Fakten leiten. Ich komme darauf zurück.
In der weitestgehend sachlichen Berichterstattung dominierte das Hauptaugenmerk der WSI-Verteilungsanalyse: Die Einkommensungleichheit erweise sich als Gefahr für die Demokratie. Befragungen hätten ergeben, dass weit über die Hälfte der dauerhaft oder zeitweilig Armen nur geringes Vertrauen in Politikerinnen und Politiker und in die Parteien haben. Und auch das Vertrauen in das Rechtssystem, die Polizei und den Bundestag ist deutlich geringer als beim Mittelstand und den Reichen. Dieses Ergebnis war zu erwarten. Und dass diejenigen, die an der Spitze der Einkommenspyramide stehen und dort womöglich geboren wurden, dem System im Großen und Ganzen günstiger als die unteren Schichten gegenüberstehen, stimmt wohl – Ausnahmen bestätigen die Regel – für alle Zeiten und Gesellschaftssysteme. Aber gut: Befragungsergebnisse und Zahlen überzeugen mehr als Plausibilität und historische Tatsachen.
Ein wesentlicher Aspekt des Zusammenhangs von Ungleichheit und Demokratie bleibt in der WSI-Analyse ausgeblendet: die ungleiche Vermögensverteilung. Sie hat sogar viel mehr mit Demokratie zu tun. Dies betrifft nicht nur die Konzentration von weit über zwei Drittel aller Vermögen bei dem reichsten zehn und von einem Drittel bei dem obersten ein Prozent, sondern vor allem die Frage, welche Vermögensbestandteile dort besonders stark konzentriert sind. Wird dieses obere Dezil der Vermögensverteilung tiefer ausgeleuchtet, dann sind zwischen acht und neun von diesen zehn Prozent vor allem reich, weil sie Wohneigentum besitzen. Bei den obersten ein bis zwei Prozent ist das anders. Auch bei ihnen ist das Wohneigentum erheblich, aber eine bedeutendere Rolle spielen das „sonstige“ Immobilienvermögen (Grund und Boden sowie vermietete Immobilien), das Finanz- und das Betriebsvermögen. Bei allen weniger vermögenden Schichten, selbst denjenigen, die noch als reich gelten, spielen diese drei Vermögensbestandteile eine völlig untergeordnete Rolle. Diese Vermögensteile schließen somit das Eigentum an den Produktionsmitteln ein. Beim Finanzvermögen, bei dem es sich zumeist um Anlagekapital handelt, ist das zumindest indirekt der Fall. Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass dieses Eigentum auch heute noch entscheidenden Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft sichert. Dies betrifft nicht allein das Verhältnis von Arbeitern und Eigentümern sowie Kapitalfunktionären im Betrieb, sondern umfasst auch gesellschaftliche und politische Institutionen und Entscheidungsprozesse. Hier stößt die wörtlich genommene Demokratie im Kapitalismus an ihre systemische Grenze. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Forderungen der oberen zehn Prozent in der Legislative Gehör finden, ist – so eine statistische Untersuchung – etwa doppelt so hoch wie bei der Gruppe mit mittleren und niedrigen Einkommen. Eine im Zusammenhang mit dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vor einigen Jahren erstellte Analyse unterscheidet in diesem Zusammenhang drei Kategorien von Reichen. Die erste Gruppe verfügt über ein Vermögen, das sie von der Notwendigkeit der Erwerbsarbeit enthebt. Der nächsthöheren Gruppe ermöglicht ihr Vermögen darüber hinaus entscheidenden gesellschaftlichen Einfluss. Das Vermögen der allerobersten Gruppe „ist so umfangreich, dass es kaum oder gar nicht mehr zerstörbar ist, so dass das Vermögen und die damit verbundene Handlungsfreiheit und das gesellschaftliche Gestaltungspotenzial auch durch ökonomische Krisen kaum angreifbar sind“. Wer Namen wissen möchte, lese die jährlich veröffentlichte Liste der 500 oder 1000 reichsten Deutschen.
Die riesige Distanz der unteren Einkommens- und Vermögensschichten zu den ökonomischen und politischen Möglichkeiten der oberen Klassen verursacht in Verbindung mit dem Anschein der Anonymität verwickelter Machtverhältnisse und des nationalen wie internationalen ökonomischen Geschehens weit verbreitete Gefühle des Ausgeschlossenseins und der Ohnmacht oder, um es wissenschaftlich auszudrücken, der Entfremdung. Das Abwenden von der Teilnahme an Wahlen, am politischen Entscheidungsprozess überhaupt, die Konjunktur von Verschwörungstheorien und resignatives, aber auch wütendes Verhalten gegenüber „denen da oben“ und „Protestwählen“ sind die Folgen.
Für Gabor Steingart ist all das kein Thema. Für ihn ist die WSI-Studie schlicht falsch: ein „vorsätzlicher Irrtum“. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die Behauptung, die Feststellung einer Armutsquote von 17 Prozent liege an der „schrägen Armutsdefinition“. Armut liegt vor, wenn das „bedarfsgewichtete Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland beträgt“. Das ist jedoch mitnichten die, wie er sie nennt, „schräge“ Definition des WSI, sondern die international anerkannte und weithin genutzte Definition. Das Statistische Bundesamt ermittelt auf dieser Grundlage eine Armutsgefährdungsquote von 14,7 Prozent; von Armut und sozialer Ausgrenzung seien 20,9 Prozent bedroht. Auch im gerade erschienen Jahresgutachten des Sachverständigenrates zu Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung werden ähnliche Zahlen präsentiert. Steingart glaubt jedoch, die Ermittlung einer solchen relativen Armut führe dazu, dass es immer Armut gebe. „Diese relative Größe sorgt dafür, dass die Armut niemals vergeht und mit dem Reichtum des Landes automatisch mitwächst. Praktisches Beispiel: Würden morgen die Firmen von Bill Gates, Elon Musk und Jeff Bezos nach Deutschland ziehen, würde das Durchschnittsniveau der Gehälter in der Bundesrepublik steigen und damit die Anzahl der Menschen, die darunter verdienen, zunehmen. Das Land wäre de facto reicher – und hätte statistisch immer mehr Arme.“
Da dieses Argument immer wieder zu hören ist, soll darauf näher eingegangen werden. Auf den ersten Blick erscheint Steingarts Argument plausibel. Wenn die Durchschnittseinkommen steigen, weil am oberen Ende mehr verdient wird, erhöht sich unter sonst gleichen Bedingungen die Zahl der unterdurchschnittlich Verdienenden. (Anmerkung: Das Armutsmaß bezieht sich nicht auf das Durchschnittseinkommen, sondern auf den Median). Aber muss dadurch die Zahl der Armen steigen? Das wäre nur der Fall, wenn die niedrigen Einkommen sehr niedrig wären und nicht wie der Durchschnitt wachsen würden. Es ist etwa so, als wenn ein Stadtgebiet der Gentrifizierung unterliegt und plötzlich massenhaft Spitzenverdiener zuziehen, ohne dass die Einkommen der geringverdienenden Altbewohner wachsen. Allmählich kommen die sich in dieser Umgebung abgehängt oder sogar deplatziert vor, zumal mit den Durchschnittseinkommen auch die Preise anziehen.
Aber um auf die Berechnung zurückzukommen: Auch bei einem relativen Armutsmaß muss es nicht immer Armut geben. Nur wenn die Einkommensschere ein gewisses Maß übersteigt, existiert sie. Wenn tausend Leute ein Monatseinkommen von jeweils 1000 Euro haben, gibt es in dieser Population keine Armut. Wenn hundert davon 1200 Euro haben und die unteren Hundert nur 800, gibt es per definitionem immer noch keine Armut. Auch wenn 100 Spitzenverdiener mit jeweils, sagen wir 1200 Euro dazu kommen, ist noch niemand arm. Erst wenn bei den ursprünglichen Zahlen die untere Gruppe weniger als 600 Euro und die obere mehr als 1400 verdient, entstünde Armut; die Quote läge dann bei 10 Prozent.
Offensichtlich würde Steingart lieber ein absolutes Armutsmaß verwenden. Vielleicht schwebt ihm das Maß der Weltbank vor, wonach arm ist, wem weniger als 2,15 US-Dollar pro Tag zur Verfügung stehen. Oder eine Art materielles Existenzminimum, die Pfändungsgrenze oder der Mindestlohn von 12 Euro. Aber selbst der ist ihm natürlich viel zu hoch, wozu er auf den niedrigeren Mindestlohn in anderen Ländern verweist. Da wird es geradezu lächerlich. Armut ist ein relatives Phänomen: Arm ist, wem die Teilhabe am gesellschaftlich üblichen Lebensstandard über ein gewisses Maß hinaus nicht möglich ist. Mit Empathie hat das nichts zu tun. Man muss eigentlich nicht davon betroffen und auch kein Mathe-Ass sein, um das zu verstehen.
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