26. Jahrgang | Nummer 22 | 23. Oktober 2023

Schwurbler und Verschwörungstheoretiker

von Erhard Crome

Nach Beginn des Angriffs der Hamas auf Israel titelte Der Tagesspiegel: „Iran und Russland wollen den Westen zermürben. Dieser Flächenbrand hat System.“ Seine Perspektive präsentierte er so: „Tote in der Ukraine, Tote in Israel, Tote im Mittelmeer: Der Westen kämpft mit existenziellen Krisen. Das ist kein Zufall, sondern wird auch gesteuert aus Moskau und Teheran.“ Weiter heißt es: „Die Gleichzeitigkeit der Krisen raubt einem schon beim Zuschauen fast den Verstand. Zehntausende Tote in der Ukraine, tausende Tote jetzt in Israel und auch in Palästina, hunderttausende Menschen auf der Flucht nach Europa, tausende Tote im Mittelmeer.“

Der Autor, Julius Betschka, ist ein jüngerer Autor, geboren 1991 in Magdeburg. Er hat in Potsdam Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Öffentliche Verwaltung studiert, war Volontär bei der Morgenpost und ist seit 2019 Redakteur beim Tagesspiegel. Ob sich aus einem Verwaltungsstudium an der Potsdamer Universität eine Kompetenz zu geopolitischer Analyse ergibt, müsste genauer recherchiert werden. Dass „der Russe“ jetzt an allem schuld sei, hält jedenfalls einer ernsthaften Betrachtung nicht stand.

Der völkerrechtswidrige, fürchterliche Ukraine-Krieg Russlands ist in der Tat ein Ergebnis Moskauer Entscheidungen und seiner Bedrohungsperzeptionen angesichts der NATO-Osterweiterung, die unter Bruch der Zusagen des Westens an Moskau von 1990 durchgezogen wurde. Der mörderische, terroristische Angriff von Hamas-Kämpfern auf israelische Zivilpersonen, auch Frauen, Kinder und Greise, ist dagegen von der Hamas im Gaza-Streifen vorbereitet und geführt worden. Die Hamas-Leute erfüllen weithin die Kriterien des irregulären Kämpfers, wie ihn mit dem Terminus des „Partisanen“ Herfried Münkler in seinem gleichnamigen Buch 1990 als Gestalt des asymmetrischen Krieges beschrieben hat. Gewalttätige Verbrechen gegen zivile Angehörige der als „Kolonialmacht“ angesehenen europäisch-stämmigen Siedlerbevölkerung, deren Tötung und Verschleppung gehörten in Algerien und Kenia zu den Methoden des antikolonialen Kampfes der 1950er und 1960er Jahre. Dort hatte die französische bzw. britische Armee zunächst mit äußerster Brutalität, auch gegen die eingeborene Bevölkerung, reagiert. Das ist lange her, wurde in den Geschichten des antikolonialen Kampfes oft verklärt und geriet in Vergessenheit. Der entscheidende Unterschied ist, die Franzosen konnten aus Algerien nach Frankreich „nach Hause“ ziehen, auch wenn sie bereits in dritter Generation in Algerien geboren waren, und die Briten aus Kenia nach Großbritannien, während die Juden nur in Israel ihre Heimstatt haben. Die Verbrechen der Hamas haben historische Vorbilder. Das gehört zur Analyse der derzeitigen Zuspitzung im Nahen Osten.

Nur mit Russland hat es nichts zu tun. Seit Beginn der russischen Unterstützung für die Assad-Regierung in Syrien 2015 hatte es intensivierte politische, militärische und wirtschaftliche Kontakte zwischen Russland und Israel gegeben, schon um zu vermeiden, dass die russischen und die israelischen Streitkräfte miteinander in Konflikt geraten. Hunderttausende Juden sind nach dem Zerfall der Sowjetunion nach Israel eingewandert. Weshalb sollte sich Russland an die Seite von deren Mördern stellen? Im Gegenzug hatte die israelische Regierung im Frühjahr 2022 versucht, zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln. Nachdem dies gescheitert war, blieb Israel politisch neutral und beteiligte sich nicht an den westlichen Sanktionen. Dass Russland jetzt die Hamas unterstützt, ist eine aberwitzige Idee.

Auch die Fluchtbewegung aus Afrika und dem Nahen Osten nach EU-Europa sowie Großbritannien hat Russland nicht verursacht; das bedarf keiner weiteren Debatte. Für die Toten, die im Mittelmeer ertrunken sind, ist Russland ebenfalls nicht verantwortlich.

Die EU-Kommission hat vor einiger Zeit unter Bezugnahme auf die UNESCO, die Kulturorganisation der Vereinten Nationen, eine Handreichung herumgereicht zum Thema: „Was sind Verschwörungstheorien? Warum haben sie Hochkonjunktur?“ Entscheidend sei „die Überzeugung, dass bestimmte Ereignisse oder Situationen von geheimen Mächten in negativer Absicht manipuliert werden“. Verschwörungstheorien hätten sechs Dinge gemeinsam: (1) es handle sich „angeblich um eine geheime Verschwörung“, hinter der (2) eine „Gruppe von Verschwörern“ stehe. Es gäbe (3) „Beweise“, die die Verschwörungstheorie zu stützen scheinen. Sie würden (4) „suggerieren, dass nichts von ungefähr geschieht, und dass es keine Zufälle gibt; nichts ist, wie es scheint – und alles gehört zusammen“. Wenn man das auf Betschkas Einlassung bezieht, gilt hier Russland als Zentrum der Verschwörung, gefolgt vom Iran. Position (5) ist: „Sie unterteilen die Welt in Gut und Böse.“ Das machen Deutschland und der Westen seit Jahren mit der Konstruktion, es gäbe eine „freie Welt“ der Demokratie, der Menschenrechte und der „regelbasierten Ordnung“, die die USA, die EU, die NATO und einige ihrer Föderaten im asiatisch-pazifischen Raum verkörpern, und eine Welt des Autoritarismus, die insbesondere von China und Russland gebildet werde. Hier folgt Position (6): „Sie machen bestimmte Menschen oder Gruppen zu Sündenböcken.“ Und das ist in diesem Falle Russland.

Die „Schwurbler und Verschwörungstheoretiker“, von denen in den deutschen Großmedien seit Jahren so viel die Rede ist, sitzen heute in den Redaktionen, Schriftleitungen und Sendeanstalten selbst. Sie schwurbeln und denken Verschwörungstheorien aus.

Dies festzustellen, exkulpiert den Kreml in keiner Weise in Bezug auf den Ukraine-Krieg. Aber ihm alle Probleme aufzubürden, die der Westen in Bezug auf die Erhaltung seiner Weltgeltung derzeit hat, ist etwas völlig anderes. Zu erinnern ist an das Problem, das Clausewitz „Friktion“ genannt hat, also das, was „den wirklichen Krieg von dem auf dem Papier unterscheidet“. Er meinte die Reibungsverluste und Störungen im Handeln militärischer Einheiten und in ihrem Zusammenwirken aus Gründen des Zustandes der Truppe, des Wetters, des Geländes oder auch der Zwistigkeiten zwischen den Befehlshabern. Das gilt auch für die politische und PR-Begleitung des Krieges. General Ludendorff – während des Ersten Weltkrieges jahrelang der entscheidende Kriegskommandeur und faktisch innenpolitischer Diktator mit Sondervollmachten, neben oder trotz Kaiser, Reichsregierung und fortgesetzt tagendem Reichstag – veröffentlichte sein letztes Buch: „Der totale Krieg“ im Jahre 1935. Darin beschwerte er sich, viele Leute und Organisationen, bis hin zum Reichskanzler, hätten ihn gehindert, alle Ressourcen Deutschlands für den Krieg in Anspruch nehmen zu können.

Mit anderen Worten: Das Friktionsproblem erscheint auch in politischer Gestalt, innenpolitisch und außenpolitisch sowie in Gestalt einer Vielfalt von Herausforderungen. Karl V. etwa, der großmächtigste Herr im Europa des 16. Jahrhunderts, kämpfte gegen die Aufstände der Städte (Comuneros) in Spanien und der protestantischen Fürsten in Deutschland, gegen die Türken im Mittelmeer und die Seeräuberstaaten in Nordafrika, wollte Italien unterwerfen und führte drei Kriege gegen Frankreich. Am Ende legte er im September 1556 in Brüssel resigniert die Kaiserwürde nieder und beschloss seine Tage im Kloster. Jeder der Kontrahenten war der Macht des Habsburgerreiches weit unterlegen, die vielen Kämpfe und Probleme gleichzeitig aber verschlissen dessen Macht.

Der Untergang der Hegemonie des Westens über die Welt im 21. Jahrhundert erfolgt nicht durch einen einzelnen Akteur, weder China noch Russland, die BRICS oder die vereinte Positionierung des „Globalen Südens“, weder den Ukraine-Krieg noch die Kriegsgefahr im Nahen Osten oder in der Straße von Taiwan, auch nicht allein durch die relative Schwächung seiner wirtschaftlichen und technologische Leistungsfähigkeit, sondern durch das gleichzeitige Zusammentreffen all dieser Kräfte und Probleme. Sie überfordern die globale Regulierungsfähigkeit des „kollektiven Westens“.