26. Jahrgang | Nummer 22 | 23. Oktober 2023

Das Unmögliche in seinen Möglichkeiten – nur ein Traum?

von Peter Jarchow

Wagt man heute, das Internet nach aktuellen Unmöglichkeiten zu befragen, schlagen einem Aussagen wie die folgenden entgegen: „Weniger Sonderbehandlung für Ukrainer ist schier unmöglich“ – „Wirten wie vor 30 Jahren ist heute kaum möglich“ – „Rauchen bald unmöglich“ – „Ein Verbot von Fake-News ist unmöglich“.

Und das verkündet die Autofabrik Toyota weiterhin unverdrossen: „Nichts ist unmöglich.“

Und davon die Umkehrung, das (tatsächliche) Mögliche aus Empörung als unmöglich zu beurteilen. Es sind ausschließlich Meldungen aus der Berliner Zeitung vom 28. August 2023: „DDR-Museum versteigert“ – „Stardirigent ohrfeigt Sänger“ – „Kuss-Krach: Fußballskandal“ – „Eklat um antisemitisches Flugblatt“ – „Von Storch mit Hundekot beschmiert“ – „Zum Schulbeginn: … massiver Unterrichtsausfall … fachfremd vertreten … Förderunterricht zusammengestrichen“ – „Schuhbeck hinter Gittern“ – „Mann (weißer Täter) erschießt drei Schwarze“.

Das Un-mögliche als Herausforderung. Praktisch, aber verhängnisvoll ist das Wort“ unmöglich“ auch: Es ist so, also keine Nachfrage, keine Diskussion, keine Bedenken wegen Folgen, keine Nachdenken.

Ist es wirklich so?

„Seien wir Realisten, versuchen wir das Unmögliche!“ Dieser Ausspruch Ernesto Che Guevaras stellt vielleicht am deutlichsten den Widerspruch zwischen möglich und unmöglich heraus. Und in diesem Widerspruch, mit diesem Widerspruch zu leben, ist ein wichtiger Motor in der Entwicklung der Menschheit.

„Geht nicht“ bedeutet STOP und wäre dann also das Ende. Ebenso wären Angst, Verzagtheit, Gehorsam, Gleichgültigkeit oder Bedacht auf persönliche Vorteile (zum Nachteil der Gemeinschaft) schlechte Ratgeber und führten zur Stagnation, und die wird vom jeweiligen Staat, um unkontrollierbare Revolten zu vermeiden, als solche auch gefördert. Gegen dieses „Geht nicht“ anzugehen, ist eine Frage des Mutes, der „Stabilität“ des eigenen Standpunktes, der Zivilcourage. Als erstes wäre festgezurrtes Wissen zu hinterfragen, und sollte es sich als brüchig herausstellen, neu zu bedenken.

Es können Irrwege passieren, die später oder früher bemerkt und korrigiert werden können. Auch dies erfordert Mut und Verständnis dafür, Fehler dem normalen Arbeitsalltag als zugehörig anzusehen und nicht als beeinträchtigend und beschämend. Die Gründe für fehlerhafte Gedankengänge zu erkunden, ist schon ein Gewinn. Weniger Zugewinn bringt ein Blick in ein Synonym-Wörterbuch. Alle Synonyme zum Begriff „unmöglich“ sind negativ belegt, alle alternativlos, aber äußerst zahlreich. 535 Synonyme in 27 verschiedenen Gruppen.

Wo aus unmöglich dann doch möglich wird.

Im Wort „unmöglich“ steckt „möglich“. Un-möglich verneint die Möglichkeit, die aber doch vorhanden ist, denn was nicht ist, kann nicht verneint werden. Laut Strafgesetzbuch sind alle Verbrechen á priori möglich, also durchführbar. Die angedrohten Strafen sind deshalb so hoch, dass eine solche Tat sich nicht lohnt, also abschreckt und es soll die Tat nahezu unmöglich machen.

In der DDR waren Rechte der Bürger, z. B. die der Ausreise, durch Gesetze drastisch eingeschränkt. Bei Verletzung waren die Strafen hoch. Man machte den Ausreisewilligen ihr Vorhaben nahezu unmöglich. Blieb die illegale Flucht, die den Fliehenden statt Freiheit auch den Tod bringen konnte und auch gebracht hat. Ein Aufbegehren gegen die Ungesetzlichkeit dieser Gesetze war zwecklos. Zu sehr war die DDR in das Sicherheitssystem des sozialistischen Lagers eingebettet, aber 1989 wurde das Gegenteil Wahrheit; eines der besten Beispiele für scheinbar Unmögliches, das durch die unermüdlich und mutig tätigen Menschen ermöglicht wurde.

In der Nazi-Herrschaft waren demokratische Bürgerrechte in einem weit höheren Maße eingeschränkt und die gesetzlichen Strafen entscheidend schärfer und ein Aufbegehren gefährlicher als in der DDR. Gesetze zur Judenverfolgung, zur Judenvernichtung, Gesetzlosigkeit in den Konzentrationslagern, aber auch Diffamierungen und Ausgrenzungen von „entartete Kunst“ und Bücherverbrennungen stehen in der deutschen Geschichte einzig da.

Der Umgang mit dem Krieg, ein Sonderfall der Unmöglichkeit. (Hier kann die gesamte Problematik selbstverständlich nicht erörtert werden.) Seit Bestehen der Menschheit wird von Sehnsucht nach Frieden geredet und mit Krieg gehandelt.

Die Lösung ist eigentlich eine ganz einfache. Auf der Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 ein Graffiti: „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.“ Die strengsten Gesetze und schärfsten Strafen – in allen Staaten, zu allen Zeiten – sorgen dafür, dass doch alle hingehen, bemäntelt mit Parolen – es sind immer dieselben – wie Vernichtung des Aggressors und Verteidigung der Freiheit, Kriegsverbrechen ahnden und Belobigung für Tapferkeit. Es werden immer wieder Milliarden ausgegeben für Rüstung, für Instrumente, die es aufs Töten und Vernichten abgesehen haben, ohne dass wir Steuerzahler vorher befragt wurden, ob wir diesen Kriegswaffenproduktionen überhaupt zustimmen würden. Diese Milliarden fehlen dann bei Bildung, Wohnen, Gesundheit, Kultur und Kunst und Ernährung für alle. Hier scheint die menschliche Vernunft zu versagen.

Es steckt in der Formulierung über die Unmöglichkeit, einen Krieg zu verhindern, das Wort „möglich“. Aber es hat an Glaubwürdigkeit verloren, und es ist weit und breit nicht in Sicht, dass es an Bedeutung zurückgewinnen können. Ist dies ein irreparabler Schaden der Menschheit? Ich fürchte: ja. Aber wir sollten deshalb dankbar sein, auch für kleinste Ergebnisse, den Frieden zu sichern und wenn möglich dafür sorgen, dass der Krieg mit seinen Schrecken eingedämmt wird. Viel ist es nicht, aber es ist dringend notwendig. Die Unantastbarkeit von Gesetzen anzuerkennen, erfordert verständnisvolle Einsicht und auch Mut. Die Gebote und Verbote der Straßenverkehrsordnung beispielsweise sind deshalb unantastbar, weil sie einen fließenden Verkehr ermöglichen, Unfallquellen bannen und so für Sicherheit von Leib und Leben sorgen.

Einige Beispiele aus der Geschichte von einst Unmöglichem

Der Konflikt Galileo Galilei und Giordano Bruno mit der herrschenden Gesellschaft endete für Giordano tödlich, für Galileo nicht, er konnte weiterleben und -forschen. Wer hat Recht? Giordano, der Standfeste oder Galileo, der Abweichler?

Igor Strawinskys „Sacre du Printemps“ wäre in seiner Radikalität Jahre früher unmöglich gewesen. Statt Handlung nur Bilder. Eindeutige Vorherrschaft des Rhythmisch-Metrischen. Das Ergebnis: der größte Theaterskandal einerseits und andererseits ein Jahrhundertwerk. Das Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs war „extrem ausgereizt, als gäbe es kein Morgen“ (Florian Illies) und die Künstler überboten sich in existenziellen Themen und Gestaltungen.

Im Kleinen, in der Biographie des Verfassers Peter Jarchow. Es lässt sich einiges erklären, aber es schien mehr unmöglich oder unwahrscheinlich: Die einmalige Stelle als Pianist bei Palucca, bei der Dresdner Aufführung des „Grüne Tisch“ Pianist Nr. 1 zu werden, in den Besitz des „Steinways“ von Victor Klemperer zu kommen, ebenso die stumme Klaviatur von Claudio Arrau aus seiner Berliner Zeit zu erhalten. Glück und Zufall waren sicherlich mit im Spiel, aber auch das innere Verlangen und die Kraft und Gewissheit, es bei sich bietender Gelegenheit zu ermöglichen.

In der Medizin war der Kampf Robert Kochs eine Revolte gegen die geltende, unmöglich zu verändernde Welt Rudolf Virchows der Zellularpathologie, ebenso Ignaz Semmelweis in seinem Kampf um die Eindämmung des Kindbettfiebers gegen alle Welt. Die Möglichkeit hat die Unmöglichkeit überwunden und ist heute selbstverständlich. Es sind nur Beispiele, die mir als Nicht-Mediziner in den Sinn gekommen sind.

Michail Fokin, der seine Autobiographie „Gegen den Strom“ nannte und bewies, dass die bis dato unüberwindliche Trennung von Klassisch und Modern im Bühnentanz überwindbar ist. Seine Choreographie „Der sterbende Schwan“ überzeugt in der Synthese klassischer und moderner Bewegungselemente und gilt als eine der bedeutendsten Werke der Tanzkunst. In der Londoner Times hatte Fokin seine Ansichten bereits 1914 dargelegt.

Arnold Schönbergs Bekenntnis zur Zwölf-Ton-Technik war eine Revolution, weil die Gleichberechtigung aller 12 Töne innerhalb einer Oktave in allen Konsequenzen mit dem Wesen der bisherigen Theorien nicht vereinbar war, unmöglich war. Das Geniale war die Erkenntnis der Nicht-Vereinbarkeit mit bisherigen Theorien und somit die konsequente Befreiung von bisherigen Theorien.

Dadaismus in der Literatur, der zur Grundlage die vollständige Abkehr von sinngebenden Silben hat, ist der Ab-Sprung von jeglichem Anliegen literarischen Tuns, nämlich Inhalte zu vermitteln, gelungen und hat das bisherige Unmögliche überwunden.

Gegenstandslose Malerei ist die Trennung vom Bild, vom Abbild, eine bisher unumstößliche Aufgabe der bildenden Kunst. Es entstanden „Bilder“ mit Flächen, Linien, Kreisen, die den Bauhaus-Künstlern Weltruhm einbrachten.

Die Ächtung und Anerkennung von Schwulen, Lesben und Sonstigen im Laufe der Zeiten und im Kreis der Welt stellt eine widerspruchsvolle, von totalen Gegensätzen (Todesstrafe und religiöse Segnung) getragene Wirklichkeit dar. Im Einzelfall ein Bruch des bisherigen Unmöglichen und für die persönlich Betroffenen ein radikaler Bruch.

Albert Einstein: „Ich bin nicht klüger als alle anderen, ich bin nur neugieriger.“ Dieser Satz bestätigt die Existenz des Möglichen im Unmöglichen. Einsteins Neugierde macht nicht halt vor Weisheiten, die fest und sicher im Raume stehen. Einsteins Neugierde erweist sich stärker als eine Behauptung.

Auch ein kleiner Schritt von scheinbarer Gewissheit ins unbekannte Ungewisse ist ein Schritt ins Kreative.

Über das Erträumen von Möglichkeiten: Träume haben keinen Sinn für Realität. Unbeschwert von irdischen Gegebenheiten können sie Gedanken spinnen, die eine Lösung angehender Probleme vorgaukeln. Sigmund Freud spricht von Bewusstmachung unbewusster Konflikte und Wünsche.

Im Märchen von Wilhelm Hauff zeigte ein Hündchen dem kleinen Muck in einem Traum den Zauber seiner Schuhe und seines Wanderstabes. Er verhalf dem kleinen Muck so mit zur Flucht aus der Heimstätte der Frau Ahavzi und verschaffte ihm Anerkennung und Wohlstand. Aber nicht alle Träume bieten solche praktischen Winke. Aber manche entzaubern eine Unmöglichkeit und bieten ein Schlupfloch. Der Träumende muss zum Tätigen werden.

„Träum vor, pack zu!“ Mein Aufsatzthema beim Abitur 1960 an der EOS „Ernst-Thälmann“ am Goetheplatz in Rostock. Den Aufsatz habe ich vergessen, aber der Titel wurde für mich eine Maxime. Oder auch für Dich, oder für andere oder doch nur für mich?

Die Bürgerrechtsbewegung in den USA hatte einen Höhepunkt in der Rede von Martin Luther King am 28. August 1963 in Washington vor mehr als 250.000 Menschen: „I have a dream!“ Dieser Traum bewegte die Welt. Dennoch – bis heute – ein Traum, nur wenig von dem Erträumten wurde verlässliche Wirklichkeit.

Darum, „träum vor – pack zu!“