26. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2023

Rente für NVA-Wehrdienst ungerecht

von Henricus Schwertfeger

 Alle Tiere sind gleich,
aber manche Tiere sind
gleicher als andere.

 

George Orwell,
Farm der Tiere

 

Wer in der DDR seinen achtzehnmonatigen Wehrdienst geleistet hat, und das waren fast alle wehrpflichtigen jungen Männer ab der Einführung am 25. Januar 1962, erhält für diese Zeit sogenannte Entgeltpunkte in der gesetzlichen Rentenversicherung gutgeschrieben. Genauer gesagt, es sind 0,75 Entgeltpunkte pro Kalenderjahr.

Wer in der BRD seinen fünfzehn- oder achtzehnmonatigen Wehrdienst geleistet hat, und zwar in der Zeit zwischen 1. Mai 1961 und dem 31. Dezember 1981, erhält stattdessen 1,0 Entgeltpunkte pro Kalenderjahr.

Bei den aktuellen Rentenzahlungen bekommt ein Rentner für einen Entgeltunkt 37,60 Euro im Monat, für 0,75 Punkte sind es also lediglich 28,20 Euro. Hochgerechnet auf achtzehn Monate hat der ehemalige NVA-Soldat einen regelmäßigen finanziellen Nachteil von etwa 14,10 Euro monatlich gegenüber dem wehrpflichtigen „Bruder“ im anderen Teil Deutschlands. Lebenslang.

Nachzulesen, aber sprachlich nicht so leicht nachzuvollziehen, sind die ungerechten gesetzlichen Regelungen im Sozialgesetzbuch (Sechstes Buch, Gesetzliche Rentenversicherung, § 256 und für die „Zeiten im Beitrittsgebiet“ § 256a).

Gegen diese Regelungen mit unterschiedlicher Behandlung von ost- und westdeutschen Versicherten ist, wen wundert es, natürlich schon vor dem Bundessozialgericht geklagt worden. Allerdings ohne Erfolg. Als Begründung führte der Gesetzgeber vor allem an, dass es im Unterschied zu dem Wehrdienst in den alten Bundesländern keine Rentenbeitragszahlungen für Zeiten des gesetzlichen Wehrdienstes in der DDR gab. So auch die Argumentation der gesetzlichen Rentenversicherung, dass der Gesetzgeber bei der Bewertung des Wehrdienstes Ost nicht verpflichtet gewesen sei, derart Ungleiches gleich zu behandeln.

Gegen diese Argumentation spricht allerdings die Verordnung über die Besoldung der Wehrpflichtigen für die Dauer des Dienstes in der Nationalen Volksarmee vom 24. Januar 1962: „Für die Dauer des Grundwehrdienstes ruht die Beitragszahlung zur Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten bzw. zur Sozialversicherung bei der Deutschen Versicherungs-Anstalt; die Leistungsansprüche bleiben jedoch erhalten.“ (§ 3) In dieser Besoldungsverordnung waren für die Wehrpflichtigen auch ausdrücklich Ansprüche auf Invaliden- und Hinterbliebenenrenten aufgeführt.

In Summa geht es nicht um wirklich große Beträge für die einzelnen Betroffenen. Allerdings geht es um Gerechtigkeit, um Gleichbehandlung. Und um Empfindlichkeiten, die nachvollziehbar sind. Denn jeder Anschein von willkürlicher Andersbehandlung bestätigt letztlich das allgegenwärtige Gefühl, dass nach 33 Jahren „Beitritt“ noch immer keine wirkliche Einheit der Deutschen in Ost und West entstanden ist. Das Ganze hat auch nichts mit einer unterstellten Undankbarkeit jammernder Ossis zu tun, sondern mit dem berechtigten Anspruch auf gleichwertigen Respekt vor vergleichbaren Lebensleistungen.

Nur am Rande dahingestellt sei, dass der NVA-Wehrpflichtige gegenüber seinem Bundeswehr-Pflichtigen einen deutlich geringeren Sold bekam. Darüber hinaus herrschten in der Bundeswehr bis hin zum Heimschläfer und zu freien Wochenenden vergleichsweise paradiesische Zustände, während in der NVA der „Ausgang“ streng limitiert und die Freizeitmöglichkeiten erheblich begrenzt waren. Erschwerend kommt hinzu, dass die Möglichkeiten in der DDR, sich dem Militärdienst zu entziehen, nahe Null waren. Im Westen hingegen nutzten viele die Ausweichmöglichkeit Zivildienst.

Das Ergebnis: Ost-Wehrpflichtige der Jahre 1962 bis 1981 erhalten ein Viertel weniger Rente für den Wehrdienst!

Viele Details im Rentenrecht zementieren weitere Ungerechtigkeiten. Die DDR hatte für 27 Berufsgruppen zusätzliche Versorgungssysteme, die die Renten aufbessern sollten. Bei der Überleitung des Rentensystems 1991 wurden viele dieser Ansprüche jedoch nicht berücksichtigt. Zehn Berufsgruppen erstritten sie gerichtlich, etwa. die Lehrer, 17 weiteren gelang das nicht. Betroffen sind unter anderem Zusatzrenten für ehemalige Beschäftigte von Reichsbahn oder Post, Bergleute und Krankenschwestern. Auch die Ansprüche von zu DDR-Zeiten geschiedenen Frauen blieben ungeklärt. Ein Härtefallfonds wurde erst ab 2023 eingerichtet, nur die wenigsten Betroffenen können davon profitieren. Durch die 17 gestrichenen Versorgungssysteme wurden insgesamt 1,3 Millionen Anwartschaften per Federstrich beseitigt.

Die Deutsche Rentenversicherung und mit ihr die Bundesregierung tönen: „Mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung hat sich das Niveau der Renten in Ost und West angeglichen. Lag das Niveau der Renten im Osten im Vergleich zum Westniveau ursprünglich noch bei knapp 40 Prozent, hat es im Juli 2023 vollständig das Westniveau erreicht.“ Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, zum jetzt einheitlichen Rentenwert: „Ich freue mich besonders, dass die Rentenangleichung Ost aufgrund der positiven Entwicklung ein Jahr früher erreicht wird, als gesetzlich vorgesehen. Dazu hat auch die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro beigetragen, von der viele Menschen in den neuen Ländern profitiert haben.“ Stellt man den zweiten Satz des Heil’schen Euphemismus vom Kopf auf die Füße, sagt er aus: Überproportional viele Menschen im Osten verdienen lediglich den Mindestlohn. Mit absehbaren Folgen für die Höhe ihrer zukünftigen Renten. Ist das tatsächlich ein Erfolg?