Wie stark muss der Glaube an eine sozialistische oder überhaupt an eine lebenswerte Zukunft sein, wenn man das 20. Jahrhundert zur Gänze durchlitten hat. Sei es, weil man von den jeweils Herrschenden zum politischen Feind erklärt wurde, sei es, weil man in einem unmenschlichen System als „rassisch minderwertig“ zur Vernichtung freigegeben war? Diese Fragen drängen sich fast unvermeidlich auf, betrachtet man den Lebensweg von Hertha Walcher, geborene Gordon (9.8.1894 – 27.12.1990), den die Kulturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Regina Scheer in einem überaus wichtigen Buch rekonstruiert hat. Es ist, auch wenn der Titel dies nicht aussagt, eine Doppelbiographie über Hertha und Jacob Walcher.
Hertha Gordon entstammte einer vielköpfigen jüdischen Familie aus Königsberg, die sich zumeist mit dem Schleifen von Bernstein und mit Näharbeiten eine notdürftige Existenz sicherte. Vier Jahre nach dem Abschluss der Volksschule – ein höherer Schulbesuch verbot sich aus finanziellen Gründen – ging Hertha 1912 nach London, wo sie eine Ausbildung als Stenotypistin erhielt. Von London aus nahm sie Kontakt zu Clara Zetkin auf, die ihr als Chefredakteurin der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift Die Gleichheit schon lange ein Begriff war.
Nach Beginn des Ersten Weltkrieges übersiedelte Hertha Gordon nach Stuttgart. Nun kam es zur persönlichen Bekanntschaft mit Clara Zetkin wie auch mit Friedrich Westmeyer, dem SPD-Vorsitzenden in Stuttgart. Im März 1915 trat sie in die SPD ein und ging mit deren linkem Flügel 1917 zur USPD.
Im Januar 1918 wurde Hertha Gordon im heimatlichen Königsberg wegen „pazifistischer Propaganda“ verhaftet und im Lager Holzminden interniert. Durch Vermittlung Clara Zetkins und der sowjetrussischen Botschaft in Berlin wurde sie auf dem Austauschwege nach Moskau verbracht, wo sie Lenin kennenlernte. Vom Juni bis November 1918 arbeitete sie als Sekretärin bei Karl Radek. Pro forma heiratete die bisher Staatenlose, um die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, ihren Genossen Hermann Osterloh.
Anfang Dezember kehrte sie nach Berlin zurück und ging 1919 von dort nach Stuttgart. Sie war unterdessen der zur Jahreswende 1918/19 gegründeten KPD beigetreten. Innerhalb der Partei wurde sie politisch aktiv, nahm im Oktober 1919 in Heidelberg am 2. Parteitag teil und war daran anschließend bis 1925 Sekretärin von Clara Zetkin.
In diese Zeit fiel die Begegnung mit ihrem zukünftigen Lebenspartner Jacob Walcher (7.5.1887 – 27.3.1970). Dieser entstammte einer Familie württembergischer Landwirte, erhielt eine Ausbildung als Dreher und arbeitete viele Jahre im Beruf. Er war aktiver Gewerkschafter und linker Sozialdemokrat. Auf der SPD-Parteischule in Berlin lernte er 1910 Rosa Luxemburg und Franz Mehring kennen. In Stuttgart entstanden Freundschaften mit Hermann und Käte Duncker, Albert Schreiner und Fritz Westmeyer. Seit 1911 Redakteur des Schwäbischen Tageblattes in Stuttgart, wurde Walcher 1915 wegen Gegnerschaft zur „Burgfriedens“-Politik des SPD-Parteivorstandes abgesetzt und fand Anschluss an die Spartakusgruppe. 1915 bis 1918 musste er Kriegsdienst leisten und war 1918 Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates in Stuttgart, des Spartakusbundes, dann Mitbegründer der KPD, deren Gründungsparteitag er als zweiter Vorsitzender neben Wilhelm Pieck leitete.
Von nun an widmeten Hertha Gordon und Jacob Walcher ihre Kraft, die weit über berufliche Pflichten hinausreichte, der KPD. Sie gehörten zu den realistisch denkenden, bald als „rechts“ abgewerteten Kräften innerhalb der Partei, deren nüchterne Sicht auf Politik und Gesellschaft sie vor Illusionen bewahrte. Jacob Walcher untersuchte die neue Produktionsweise des Fordismus und seine Auswirkungen auf die Soziologie der Arbeiterklasse. Er wurde 1920 Kandidat, 1921 Mitglied der KPD-Zentrale und war verantwortlich für Gewerkschaftsfragen. 1924 bis 1927 war er Mitglied der Exekutive der Roten Gewerkschafts-Internationale in Moskau, wohin ihn Hertha begleitete, die dort am Marx-Engels-Institut arbeitete, bevor sie in Berlin eine Tätigkeit in der sowjetischen Handelsvertretung aufnahm. Jacob wurde nach seiner Rückkehr Mitarbeiter der Abteilung Gewerkschaftsfragen beim ZK der KPD in Berlin. Die subtile Herabstufung zeigte, dass er im neuen Thälmannschen ZK zum Fremdkörper geworden war.
Hertha und Jacob waren nicht bereit, die sektiererische Politik zu unterstützen, die in der SPD den gefährlichsten, weil am engsten benachbarten „Gegner“ sah. Angesichts des Aufstieges der NSDAP sei ein solcher Kurs selbstmörderisch. Die Konsequenz war Ende 1928 der Ausschluss beider aus der KPD. Gemeinsam mit Heinrich Brandler, August Thalheimer und rund 6000 weiteren realpolitisch denkenden Kommunisten gründeten sie an der Jahreswende 1928/29 die KPD-Opposition. Diese blieb politisch isoliert, und so schlossen sich Hertha Gordon und Jacob Walcher 1932 der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) an. Doch auch dieser ursprünglichen SPD-Abspaltung war kein Erfolg beschieden. Die Apparate von KPD und SPD bekämpften die „Abweichler“, und gemeinsam erlitten alle Teile der deutschen Arbeiterbewegung nach dem faschistischen Machtantritt das Schicksal von Verfolgung, Exil und Ermordung.
Regina Scheer schildert in ungewöhnlicher Detailtreue das Exilschicksal von Hertha Gordon und Jacob Walcher: ihre letztlich vergeblichen Versuche, die SAP zusammenzuhalten, die parteiinternen Widersprüche, die sich aus der nie entschiedenen Pro- oder Antihaltung zu Stalins Sowjetunion ergaben, und Jacob Walchers letztlich leider unergiebige Kontakte mit Leo Trotzki im französischen Exil. Im Pariser Lutetia-Kreis setzte sich Jacob Walcher, anders als Trotzki, für ein Zusammengehen mit der KPD und der SPD ein und schloss Freundschaft mit dem jungen Herbert Frahm, der unter den Namen Willy Brandt geschichtswirksam werden sollte.
Es folgten für Jacob und Hertha 1939 die Internierung und schließlich 1941 die Emigration nach New York, wo sie am 13. Mai 1941 heirateten. Während Hertha Arbeit als Stenotypistin und Übersetzerin fand, ging Jacob in den Betrieb als Metallarbeiter. Seine ganze verbleibende Zeit setzte er daran, die SAP in New York neu zu organisieren – und hier gelang es der Autorin, neues, auch dem Verfasser dieser Zeilen bisher nicht bekanntes Material ausfindig zu machen. Im Council for a Democratic Germany bemühten sich beide Walchers ab 1944 um ein Bündnis kommunistischer, sozialdemokratischer und liberaler Hitlergegner.
Über Bremen kehrten die Walchers 1946 in den Ostsektor von Berlin zurück – gegen die Warnungen ihrer engen Freunde August und Irmgard Enderle sowie Willy Brandts. Sie wollten am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft mitwirken – und sie erfuhren eine Enttäuschung. Jacob Walcher, soeben noch Chefredakteur der Gewerkschaftszeitung „Tribüne“, wurde 1951 wegen seiner KPO- und SAP-Vergangenheit aus der SED ausgeschlossen. Viele „Genossen“ wandten sich von ihm ab. Die Freundschaft mit Bertolt Brecht und Helene Weigel half den Walchers, die bitteren Jahre der Isolierung zu überstehen. Jacob Walcher wurde – als Preis für seine politische „Rehabilitierung“ – angeboten, für die Staatssicherheit zu arbeiten. Er lehnte ohne Diskussion ab. Die parteiinterne Rehabilitierung erfolgte schließlich 1956, doch blieben die Walchers gebrannte Kinder des DDR-Sozialismus.
Nach Jacobs Tod 1970 arbeitete Hertha noch einige Jahre als freischaffende Übersetzerin. Sie war Mitglied in der SED und leistete politische Tätigkeit in einer Wohnparteiorganisation. Über ihre Vergangenheit sprach sie kaum, sie tat dies jedoch gegenüber der weit jüngeren Regina Scheer, deren (Stief-)Vater Maximilian Scheer ihr Exilkamerad in New York gewesen war.
Der Zusammenbruch der DDR war für Hertha Walcher „kein Scheitern, das sie überraschte, sondern eines, das sich schon jahrzehntelang vorbereitet hatte. Sie hatte trotzdem auf einen anderen Ausgang der Geschichte gehofft“, schreibt ihre Biographin. Das Buch holt die bitteren, doch auch – verglichen damit recht wenigen – hoffungsvollen Geschehnisse eines ganzen Jahrhunderts für unsere Erinnerung zurück.
Das Buch ist keine streng wissenschaftliche Biographie. Regina Scheers Verweben von historischen Fakten und persönlichen Erinnerungen mag unter Historikern umstritten sein. Auch weist die Bibliographie zwar zahlreiche, doch keineswegs alle Standardwerke der Forschung auf. Der Autorin ging es jedoch vorrangig darum, eine fast vergessene Zeitzeugin des 20. Jahrhunderts und ihr Engagement aufseiten des radikalen linken Flügels der Arbeiterbewegung vor dem Vergessen zu bewahren. Dies ist ihr gelungen. Regina Scheer erhielt dafür den diesjährigen Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse.
Regina Scheer: Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution, Penguin-Verlag, München 2023, 704 Seitern, 30,00 Euro.
Schlagwörter: Arbeiterbewegung, Biographie, Hertha Gordon-Walcher, Jakob Walcher, Mario Keßler, Regina Scheer