26. Jahrgang | Nummer 12 | 5. Juni 2023

Für den Osten, wider den Westen

von Stephan Wohanka

Jeden Tag kann man auf hiesigen Straßen und Plätzen, in den Medien und namentlich im Internet, eine Auseinandersetzung der Menschen über ihre Haltung zu Russland verfolgen. Das Spektrum dieses Streites reicht von soliden, historisch oder politologisch fundierten Beiträgen bis hin zu unsachlichen, wüsten Polemiken, Unterstellungen und Hetze.

Besonders rechte und linke Milieus neigen zu letzter „Debattenkultur“. So ging es in der AfD hoch her: „Wenn sich die Putin-Versteher nicht an Absprachen halten, dann fordere ich bald Reparationen von Russland und die sofortige Festnahme Putins“, sagte ein bekannter anonym bleiben wollender AfD-Abgeordneter aus dem Westen. Die „Ossis“ in seiner Fraktion litten doch unter dem „Stockholm-Syndrom“; nur so lasse sich die „liebevolle Beziehung zum alten Besatzer“ erklären.

Unmittelbar nach dem Besuch der AfD-Granden Alexander Gauland und Tino Chrupalla in der russischen Botschaft zum 8. Mai brodelt es abermals in der Partei. So zitiert das rechte Nachrichtenmagazin zuerst.de die AfD-Chatgruppe: „Ein […] AfD-Abgeordneter schreibt: ‚Ich brech ins Essen!!! Langsam frage ich mich, ob ich hier noch richtig bin.‘ Ein AfD-Funktionär aus Bayern findet: ‚Diese Verharmlosung der millionenfachen systematischen schweren Kriegsverbrechen (Mord, Vergewaltigung, Vertreibung) der Sowjets kann man Patrioten nicht erklären. Die Unterstützung Rußlands kann man 85% der Westdeutschen nicht erklären.’“ Dagegen steht die Äußerung eines brandenburgischer AfD-Abgeordneter: „Hallo? Gerade bei uns in LOS kommt das bei unseren Wählern gut an oder wird ohne Probleme toleriert – jetzt mal unabh. vom Westen gesehen.“

Bei den Linken oder auch der „Linken“ ähnliche verbale Händel Ein auf dem Hintergrund einer Bundestagssondersitzung zum Ukraine-Krieg veröffentlichtes Papier aus der Fraktion veranlasste Gregor Gysi zu folgender Philippika: „Was mich […] wirklich entsetzt an eurer Erklärung, ist die völlige Emotionslosigkeit hinsichtlich des Angriffskrieges, der Toten, der Verletzten und dem Leid.“ Es gehe lediglich darum, die „alte Ideologie in jeder Hinsicht zu retten“, diese umfasse „die NATO ist böse, die USA sind böse, die Bundesregierung ist böse und damit Schluss für euch“. Die auch angesprochene Sahra Wagenknecht konterte: Den Eindruck zu erwecken, „wir hätten den russischen Angriffskrieg auch nur ansatzweise gerechtfertigt oder es an Empathie mangeln lassen, grenzt an Rufmord“.

Adressaten linker Appelle zu Mäßigung sind in erster Linie die Ukraine, die NATO und der Westen im Allgemeinen; gegenüber Russland und Putin ist der Ton dagegen um Verständnis bemüht. Von westlichen Sanktionen hält man nichts. „Wir kaufen Rohstoffe in echten Schurkenstaaten“, sagte Wagenknecht einer Zeitungsredaktion. „Was spricht gegen billiges Gas aus Russland, wenn man es wieder bekommen könnte?“ Das sind Positionen, die politisch nur rechts mehrheitsfähig sind. So sind – verständlich – Sympathien für Wagenknecht in Teilen ebendieses Lagers unübersehbar. Im Dezember zierte ihr Konterfei das neurechte Magazin Compact. Wagenknecht in Großformat, sanft lächelnd, der Blick in die Ferne schweifend; daneben ist zu lesen „Die beste Kanzlerin“ (Was – nebenbei – nach Merkels in der Summe misslungener Kanzlerschaft gar nicht so schwer wäre). Der zugehörige Text spekuliert über die Möglichkeit einer „Querfront“ aus Wagenknecht und der AfD.

Die zitierten Quellen sind Dokumente, die tief blicken lassen in die Diskurs- und Gedankenwelt der Rechten wie der Linken. Sowjetrussland war schon einmal in den 1920er Jahren ideeller Fixpunkt für Muster radikaler Kritik am Westen. Der Historiker Fritz Stern veröffentlichte 1961 die Schrift „Kulturpessimismus als politische Gefahr“. Anhand dreier exemplarisch genannter konservativer Kulturkritiker – Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck – zeigt er, wie damals eine ganze Jugend in ihrer Verzweiflung mobilisiert wurde gegen den „Liberalismus als Erzfeind“. Der Letztgenannte publizierte 1916 die Abhandlung „Der Preußische Stil“, in der er das Preußentum als den „Willen zum Staat“ erklärt. Damit verbunden, entwickelte er Ansichten zu einem „preußischen“ oder auch „nationalen“ Sozialismus, der zum Bindeglied zwischen Deutschland und Russland werden solle. Moeller formierte so eine Denktradition in der Weimarer Republik, in der Russland zum Sehnsuchtsort für Demokratieverächter aufstieg. Ein antidemokratischer Block, bestehend aus den zwei jungen „Kulturnationen“ Deutschland und Russland, die die Zukunft bestimmten, wurde in Stellung gebracht gegen ein altes Europa der Bürger, der Parlamente und Verfassungen, verkörpert durch Frankreich und England. Und paradoxerweise auch durch die USA, da Interventionsmacht im 1. Weltkrieg.

Moeller war von der russischen Literatur fasziniert, wobei namentlich die Beschäftigung mit Dostojewski als Ausweis einer kulturkritischen Haltung galt. Der Genannte wurde quasi zum Mentor Moellers: „Dostojewski […] ist der Dichter dieses ganzen Zeitalters. Er ist der Dichter der Weltrevolution, die über die Erde kam. Er hat sich bereits mit den Problemen auseinandergesetzt, die zu den Krisen führten, welche wir erlebten und noch erleben“. Dabei ist auszuschließen, dass Moeller in irgendeiner Weise damit die Oktoberrevolution meinte oder er auch nur im Geringsten mit dieser sympathisierte. Moeller sah vielmehr die „ideologische Zukunft Europas in der antiliberalen Gemeinschaftskultur Russlands“ – so nochmals Stern. Diese „Gemeinschaftskultur“ steht wohl für Moellers „Sozialismus“.

Eine zweite Strömung deutsch-russischen Bekenntnisses war der Nationalbolschewismus, der desgleichen in den 1920er Jahren eine Anlehnung Deutschlands an Sowjetrussland anstrebte. Der Historiker Otto-Ernst Schüttekopf beschrieb diese Weltsicht in seiner Studie „Linke Leute von Rechts“ (1960) als aus drei Aspekten bestehend: Einerseits nationalistische Tendenzen in der kommunistischen Bewegung, andererseits sozialistische Bestrebungen im völkischen Lager und drittens das zeitweilige Bündnis beider Strömungen in einer „Querfront“ im innenpolitischen Kampf gegen Weimar. Die Grundlagen dieses Denkens finden sich unter anderem in einem im 19. und frühen 20. Jahrhundert gepflegten nationalistisch-romantischen Selbstverständnis, wonach Deutschland eine „Sonderkultur“ darstelle, die propagandistisch gegen englische „Krämerseelen“, „gallische Oberflächlichkeit“ und „slawischen Despotismus“ in Stellung gebracht wurde. Desweiteren spielen die unvollendete Novemberrevolution und die Zurückweisung des Friedensvertrages von Versailles eine Rolle.

Ein einflussreicher Nationalbolschewist war Ernst Niekisch. Sein Ziel war die Errichtung eines „deutsch beherrschten Mitteleuropas“ und Neuordnung des Ostraums, ein „Endimperium“ gegen die „Veramerikanisierung“; ein Staat konzipiert aus deutschen und russischen Bestandteilen. Eine Abrechnung mit inneren Feinden und ein erfolgreicher Kampf gegen das „französische Europa“ mit Russlands Hilfe sollte dem vorausgehen.

Es verwundert nicht, dass Alexander Dugin, russischer Vordenker eines „eurasischen“ – im Gegensatz zum „atlantischen“ – Kulturraums, Niekisch aufgrund dessen geopolitischer Ansichten in die Nähe des Eurasismus, Synonym für ein Imperium von Dublin bis Wladiwostok unter Russlands Führung, rückt. Über Dugins Einfluß auf Putin wird trefflich gestritten. Dass dieser doch etwas größer ist – darauf deutet ein Autobombenattentat vom August 2022 hin, bei dem Dugins Tochter getötet wurde, was aber sehr wohl ihm gegolten haben könnte, denn sie fuhr sein Auto.

Die sich auf dem Boden der Weltkriegsniederlage in Deutschland nach 1918 entfaltende Stimmung aus Nationalismus und Ressentiment sah so schon einmal im Westen das Inbild der Dekadenz, stilisierte hingegen Russland zur Utopie, zum imaginären Gegenentwurf zum Westen. Es ist offenkundig, im Westen ist das Vertrauen in die Demokratie erschüttert. Ob Ungarn, Polen, Türkei, Indien, Israel – es mutieren Staaten, der Soziologin Shalina Randeria folgend, zu einem „sanften Autoritarismus“. Auf Putins Russland trifft nicht einmal mehr das zu. Die westliche Gestaltungsmacht schwindet, eine neue Weltordnung ist vonnöten. Dieses Russland kann jedoch nicht das „духовное пространство“, den ideellen Raum dafür abgeben.