26. Jahrgang | Nummer 12 | 5. Juni 2023

Hase und Schlange

von Jutta Grieser

Im Deutschen kennt man das Idiom von dem Kaninchen, welches beim Anblick einer Schlange vor Angst gelähmt ist. Das ist ein wenig verwunderlich, weil es zwar Hasen hierzulande gibt, aber kaum giftige Reptilien, die das Langohr erschrecken könnten. Die Metapher existiert auch in anderen westeuropäischen Sprachen, in denen die Frage „Wer-wen?“ in ähnlicher Weise gestellt wird. In meinen Ohren klingt sie auf Niederländisch nicht nur melodischer, sondern vermutlich auch realistischer: „als aan de grond genageld staan“. In Holland haben sie wahrscheinlich weder Schlangen noch Hasen …

Vor etlichen Jahren lief auf Youtube ein Videoclip (vermutlich tut er das noch immer: das Internet vergisst bekanntlich nichts), in dem die tierische Konstellation auf den Kopf gestellt wurde. Nicht die Schlange obsiegte im Zweikampf, sondern eine Häsin mit ihrer Mutterliebe. Das schwarze Reptil hatte sich ihr Kleines gegriffen, umschlungen und verharrte nun in Vorfreude auf den Leckerbissen. Da attackierte plötzlich Mutter Hase die Schlange mit ihren langen Nagezähnen. Wieder und wieder sprang sie in das Gekringel und biss zu. Der Angriff war erfolgreich und trieb die Schlange, von dem Hasen verfolgt, in die Flucht. Von wegen Angsthase …

Die Chinesen befinden sich aktuell im Jahr des Hasen. Seit Jahrtausenden kennt man in Fernost zwölf Tierkreiszeichen, die im Jahresrhythmus wechseln. Sie bestimmen nicht nur das Denken vieler Chinesen, sondern heutzutage auch das öffentliche Bild in der Volksrepublik. So findet man heuer beispielsweise den Hasen selbst auf Briefmarken: witzige, originelle Zeichnungen von chinesischen Künstlern, fernab vom Kitsch, den es natürlich auch gibt.

Dem Hasen sagen die Chinesen nach, er sei freundlich und friedliebend. Trotz Zurückhaltung wisse er genau, was er wolle. Er verfolge seine Ziele unauffällig, aber mit Konsequenz, vor allem aber tue er dies mit diplomatischem Geschick. Clever, empathisch, konzentriert, feinfühlig, mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Als eine im Jahr des Hasen Geborene schmeicheln mir diese zugeschriebenen Eigenschaften, mehr noch jedoch lassen mich die in dieses Jahr gesetzten Erwartungen hoffen. Der Hase ist ein Diplomat, heißt es. Der chinesische ganz gewiss.

Und da die japanische mit der chinesischen Kultur von Alters her korrespondiert, liegt die Vermutung nahe, dass Japans erste Mondsonde nicht ohne Hintergedanken „Hakuto-R“ hieß: Weißer Hase.

Gegenwärtig verhalten sich manche Asiaten wie das sprichwörtliche Kaninchen, das beim Anblick der Schlange erstarrt. Seit nämlich im Vorjahr die Betreiberfirma des 2011 im japanischen Fukushima explodierten Atomkraftwerkes angekündigt hat, das kontaminierte Kühlwasser ins Meer leiten zu wollen, herrscht in der Region zwar helle Empörung, aber der Widerstand sowohl in Japan wie auch bei den Anrainerstaaten scheint ein wenig verhalten. Zumindest sind Nachrichten von wütenden Protesten oder ähnlichem nicht bis nach Europa gedrungen, ich habe jedenfalls dergleichen weder gehört noch gelesen. Dabei handelt es sich doch um ein globales Umwelt-Problem, was globales Handeln verlangt.

Die vor zwölf Jahren in Fukushima zerstörten Reaktoren werden noch immer mit Wasser gekühlt. Tag um Tag fallen so 140.000 Liter an, die in Tanks gelagert werden müssen, weil das Wasser verstrahlt ist. Es enthält Tritium, eine radioaktive Form von Wasserstoff mit einer Halbwertszeit von zwölfeinhalb Jahren. Erst nach hundert Jahren, sagen Experten, ist es soweit zerfallen, dass nicht mehr strahlt. Der Betreiberkonzern TEPCO hatte 2022 erklärt, dass er keinen Platz mehr für die Tanks habe, weshalb er einen Tunnel ins Meer graben wolle, etwa tausend Meter weit, um von dort die Giftbrühe in den Pazifik zu entsorgen. Selbstverständlich zuvor gefiltert und verdünnt. Tritium lässt sich natürlich nicht herausfiltern. Die Regierung in Tokio hat dieses Vorhaben gebilligt.

Was die geplante Verklappung mit der Umwelt anrichtet, wird man erst wissen, wenn’s passiert. Dann aber ist der Prozess irreversibel, der Geist aus der Flasche. Die Atomkraftwerke galten auch als Zukunftstechnologie und sicher, bis uns Tschernobyl und Fukushima um die Ohren flogen. Es kann jederzeit wieder passieren. Weltweit sind über vierhundert Kernreaktoren in Betrieb. Und irgendwie und irgendwo, so suggeriert man bis heute, wird der lästige Atommüll sicher „zwischengelagert“.

Fukushima war mindestens für die Naturwissenschaftlerin im Bundeskanzleramt seinerzeit ein Menetekel, weshalb sie die Abschaltung der deutschen AKW durchsetzte. Das letzte ging in diesem Jahr vom Netz, und seither wird dies in deutschen Medien und auch im Parlament als schwerer Fehler bezeichnet. Mit Hinweis auf den Ukraine-Krieg und die politische Verweigerung des weiteren Bezugs von russischem Öl und Gas diskutiert man allen Ernstes die Reaktivierung von Atomenergie. Und als aberwitziges Argument dient der Hinweis, dass 13 von 27 EU-Staaten ja auch Kernkraftwerke betrieben. Selbst die Grünen, einst mit „AKW? Nein danke“ zur Partei geworden, nennen Atomenergie inzwischen grün und nachhaltig. Was nicht weiter überrascht. Es gibt kein Prinzip, das diese opportunistische Partei mittlerweile nicht über Bord geworfen hat.

Selbst wenn – wider alle Erwartung – die Entsorgung des atomaren Giftmülls in den Pazifik sich als folgenlos erweisen sollte, ist die Sorge der Fischer in Japan, Russland, Korea und China mehr als begründet. Die Bauern und Fischer in der Region Fukushima haben es nach 2011 existentiell erfahren: Grundsätzlich alle Lebensmittel aus diesem Gebiet wurden und werden sie nicht mehr los! Allein deren Herkunft stigmatisierte die Waren, obwohl sie, hundertfach geprüft, nicht belastet waren. Das gleiche Schicksal droht vermutlich künftig allen im Japanischen, im Gelben und im Ostchinesischen Meer gefangenen Fischen und geernteten Meeresfrüchten. Millionen Menschen, die vom Meer leben, fürchten um ihre Zukunft, wenn denn die Pläne des japanischen Energiekonzerns verwirklicht und nicht gestoppt werden sollten.

Neben der ökologischen Komponente ist es aber die politische Dimension, die allenthalben Unmut bei den Anrainern auslöst. Es ist die hemmungslose Arroganz, mit der Tokio Entscheidungen trifft, die mit wissenschaftlicher Expertise heruntergespielt und dem Feigenblatt der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) verdeckt wird. Das wird insbesondere durch das Pacific Island Forum (PIF) artikuliert, jenem Verbund von achtzehn Staaten und Gebieten im Pazifik. Im Kalten Krieg haben die einstigen Kolonialmächte USA, Großbritannien und Frankreich diese Inseln dort rücksichtslos für ihre Atomtests missbraucht – Japan handelt nun nicht anders. Monatelange Verhandlungen zwischen dem PIF und Tokio blieben ergebnislos. Wie früher bei den Atomtests, bei den Folgen des von den Industriestaaten verursachten Klimawandels wie auch bei der Einleitung des strahlenden Wassers sehen sich die Menschen auf diesen Inseln im Pazifik als Opfer von Entscheidungen, bei denen sie nicht gefragt wurden. Nicht zu reden davon, dass etliche Inselstaaten Schauplätze der grausamen Aggression der Japaner im Zweiten Weltkrieg waren.

Übrigens, „Hakuto-R“ – der Weiße Hase –, ist im April 2023 bei der Landung auf dem Mond zerschellt. Japans Versuch, als viertes Land auf dem Mond präsent zu sein, ist damit sichtbar gescheitert. Vielleicht ein gutes Omen.