Der Tag, an dem diese Blättchen-Ausgabe erscheint, der 8. Mai, ist nicht nur hierzulande der „Tag der Befreiung“. An diesem Tag vor 78 Jahren kapitulierte die Führung der faschistischen deutschen Wehrmacht vor den Alliierten, der Zweite Weltkrieg – von deutschem Boden ausgegangen – war in Europa beendet. Die Völker, die noch Jahre danach an den Kriegsfolgen leiden und ihre Toten beklagen sollten, sahen sich zumindest vom Joch des Hitlerfaschismus befreit – dankbar denen, die für ihre Befreiung gekämpft und zu Vieltausenden ihr Leben gelassen hatten.
Ein Tag des Gedenkens bleibt der 8. Mai. Es sei ein gutes und wichtiges Zeichen, „wenn wir gemeinsam der Millionen Opfer der Terrorherrschaft gedenken und dankbar auf den Tag der Befreiung blicken“, ließ beispielsweise der Bürgermeister unseres Berliner Stadtbezirks vor Tagen verlauten. Die Forderung von Linken, Gewerkschaften, von Überlebenden der Konzentrationslager, den 8. Mai in Deutschland zum gesetzlichen Feiertag zu erklären, sind allerdings leiser geworden. Was auch daran liegen mag, dass sich heute Enkel und Urenkel derer, die einst Seite an Seite für unsere und ihre Befreiung kämpften, Russen und Ukrainer, in erbitterter Feindschaft begegnen und aufeinander schießen. Allein das ist schon eine Tragödie, zu schweigen von dem Leid und den Zerstörungen, die der russische Überfall auf das vormalige „Brudervolk“ verursacht.
Beide Parteien werfen einander dieser Tage die weitere Eskalation des Krieges vor – und mobilisieren zugleich für den baldigen „Sieg“. Aus der russischen Hauptstadt wird berichtet, dass überall „und sogar bei den Friseuren“ Plakate hängen, die für den Armeedienst werben. Und aus dem ukrainischen Kiew hört man seit Wochen von Vorbereitungen für eine „Frühjahrsoffensive“, die von westlichen Waffenlieferanten und Medien offenbar herbeigesehnt wird.
Man lese den Beitrag „Vor 105 Jahren“, der dieser Ausgabe angehängt ist. Der Weltbühnen-Autor, der sich „Lucian“ nannte (wahrscheinlich Robert Breuer), stellte noch kurz vor dem Ende des Ersten Weltkriegs fest: „Überall reden die Staatsmänner in den kriegführenden Ländern davon, daß der Krieg bis zum Siege dauern müsse. Bis zum Siege! Das heißt: den Krieg ins Unendliche fortsetzen. Sieg war in frühern Zeiten die Vernichtung oder die so starke militärische Schwächung des Gegners, daß an eine Fortsetzung des Kampfes nicht zu denken war. Kann das heute noch sein?“ Dieselbe Frage stellt sich ein Jahrhundert später angesichts der „modernen“ Waffentechnik und der Gefahr einer Ausweitung des Krieges noch dringlicher. An Drohungen fehlt es nicht: Der ehemalige Chef von Roskosmos, Dmitri Rogosin, seit Jahren bekannt für scharfmacherische Worte, erklärte erst dieser Tage, falls die ukrainische Armee versuchen sollte, zum Angriff überzugehen, habe Russland keine andere Wahl, als taktische Atomwaffen einzusetzen …
In Russland wird am 9. Mai traditionsgemäß der „Tag des Sieges“ gefeiert. Nach Auskunft des offiziellen russischen Meinungsforschungsinstituts WZIOM für 65 Prozent der Bürger des Landes der wichtigste Feiertag des Jahres. Als dessen wichtigstes Ereignis wiederum gilt die „Siegesparade“ auf dem Roten Platz. Daran, versicherte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, werde auch in diesem Jahr festgehalten, Planänderungen gebe es nicht. Und wie üblich werde Präsident und Kriegsherr Wladimir Putin eine Rede halten. Allerdings betonte Peskow auch, dass die „Spezialdienste“ alles Notwendige unternähmen, um die Sicherheit an diesem Tag zu gewährleisten, was eine „sehr schwierige, anstrengende Arbeit“ sei.
Vor einem Jahr hatte Putin bei dieser Gelegenheit erklärt, die russischen Soldaten setzten heute die Heldentaten ihrer Vorfahren fort, die 1945 den Sieg errangen. Was immer man zu Ursachen und Hintergründen des derzeitigen Krieges vorzubringen hat – und schon daran scheiden sich bekanntlich auch hierzulande die Geister: Die Befreiungstat 1945 mit dem verbrecherischen Überfall auf das Nachbarland gleichzusetzen, ist ein Vergehen am Vermächtnis derer, die einst voll bitterer Erfahrung schworen: Nie wieder Krieg!
Was es in Moskau in diesem Jahr nicht mehr geben wird, ist der Marsch des „Unsterblichen Regiments“, der Aufzug von Kriegsveteranen. Es gibt schließlich kaum noch Überlebende. Ach hätten sie doch ihren Nachkommen ein für alle Mal ausgeredet, in den Krieg zu ziehen!
Schlagwörter: Detlef D. Pries, Krieg, Russland, Tag der Befreiung, Tag des Sieges, Ukraine