26. Jahrgang | Nummer 7 | 27. März 2023

Polens Papst

von Jan Opal, Gniezno

Polen habe „am Rand seines Elends”, so Czesław Miłosz damals überschwänglich,  „den erträumten König bekommen, aus dem Geschlecht der Piasten, Richter am Baum der Erkenntnis, nicht verstrickt in der kreischenden Wirklichkeit von Politik“. Als Krönungstag galt dem liberal gesinnten Dichter der 16. Oktober 1978, als Kardinal Woytyła aus Kraków in Rom zu Papst Johannes Paul II. wurde. Und Polens liberale Speerspitze Adam Michnik hatte vor nunmehr zehn Jahren den holländischen Journalisten Ekke Overbeek einzustimmen versucht, der sich verwundert gezeigt hatte über die für Ausländer schwer abzuschätzende Ausmaße jener Autorität des Papstes in Polen, die alles andere, selbst die katholische Kirche in den Schatten zu stellen vermag: „Das Thema Papst und alles, was damit zusammenhängt, ist ganz sicher ein Tabu.“ Wer über den Papst schreibe, sei gut beraten, außerordentliche Vorsicht walten zu lassen, jedes kritische Wort gehöre auf die prüfende Waage. Zu den ganz wenigen, die nicht zurückschreckten, dem Papstkult öffentlich beizukommen, gehörte Jerzy Urban, der mit satirisch-derben Mitteln in der berühmt-berüchtigten Wochenzeitung Nie (Nein) wider den Stachel löckte. Doch selbst er musste mitunter einräumen, dass die Leserschaft bestimmte Grenzen nicht überschritten sehen wollte.

Jetzt sieht sich Polens gesamte Öffentlichkeit mit gleich zwei neuen Versuchen konfrontiert, dem ins Kraut geschossenen Papstkult Schranken zu setzen. Overbeek hat mit „Maxima Culpa“ ein neues Buch vorgelegt, das zeigen will, was auf Kirchenseite über Papst Johannes Paul II. verheimlicht werde. Und der Filmemacher Marcin Gutowski hat sich in einer Filmreportage Kardinal Woytyła vorgeknöpft, bevor er Papst wurde. In beiden Fällen stehen sexuelle Missbrauchsfälle im Mittelpunkt, die kirchenseitig vertuscht wurden.

Die ersten Reaktionen aus der Kirche in Polen sind durchaus bemerkenswert, denn das Episkopat gab in einer Erklärung immerhin zu, dass eine gerechte Bewertung der Entscheidungen und der Tätigkeit von Karol Woytyła als Kardinal weitere Archivnachforschungen voraussetze. Die liberale Wochenzeitung Polityka warf indes ein, dass die Kirchenarchive verschlossen seien und auch verschlossen blieben, sei man sich der bedrohlichen Gefahr doch zu gut bewusst. Nicht ganz so hochgestellte Kirchenmänner äußern hier und da, dass wichtiger als das Ansehen Woytyłas aus christlichen Sicht wohl die Sache der einst betroffenen Kinder sei, der Opfer! Ein führender katholischer Theologe räumt sogar ein, dass Johannes Paul II. aufhöre, eine Ikone zu sein. Interessant auch die Äußerung von Papst Franziskus, der, befragt nach den Missbrauchsfällen, in einem Interview mit einer privaten Fernsehanstalt in Polen eingeräumt hat, dass zu den Zeiten, in denen Woytyła das Kardinalsamt ausgeübt habe, in der katholischen Kirche alles vertuscht oder, wenn es nun gar nicht mehr ging, der Betreffende an einen anderen Ort versetzt worden sei.

Doch überwiegt in Polens Kirche ganz klar die Abwehrhaltung, darüber sollten die nüchternen und nachdenklichen Stimmen nicht hinwegtäuschen. Außerdem sind die von Jarosław Kaczyński geführten Nationalkonservativen der aus deren Sicht unverschämt angegriffenen Kirche sofort beigesprungen. In einer Sejm-Sitzung standen die Abgeordneten des Kaczyński-Lagers demonstrativ mit dem Porträt des polnischen Papstes auf: Stopp, bis hierher und keinen Schritt weiter! Für Kaczyński ist es bereits jetzt ein willkommenes Wahlkampfthema für die im Herbst anstehenden Parlamentswahlen, weil die eigene Wählerschar frühzeitig mit einem sie elektrisierenden Thema auf die kommende Schlacht eingestimmt werden kann. Erste kleinere Demonstrationen in der fernen Provinz, mit denen der Papst verteidigt werden soll, dürften ganz nach dem Geschmack der Regierenden sein.

Robert Biedroń, der bei den Sozialdemokraten/Sozialisten im EU-Parlament sitzt, spricht hingegen davon, dass Papst Johannes Paul II. in bestimmten Kreisen in Polen geradezu entmenschlicht sei, eine Art geheiligter Übermensch. In Brüssel jedenfalls seien die meisten erstaunt über die heftigen Reaktionen in Polen, denn die Dinge seien ja doch lange bekannt gewesen, hätten auf dem Tisch gelegen. Im Westen, so der EU-Abgeordnete, werde übrigens ganz unaufgeregt über die Verfehlungen in der katholischen Kirche diskutiert, folglich auch über die Verfehlungen des polnischen Papstes.

Im Juni 2021 wurde im Stadtzentrum in Warschau ein „Solidarność“-Denkmal eingeweiht, die Auftraggeber kamen aus dem liberalen Oppositionslager, die in der Hauptstadt das Sagen haben. In den Reihen der regierenden Nationalkonservativen – zu denen die heutige Führungsspitze der Gewerkschaft entschieden hält – wurden sofort Stimmen laut, die eine Beseitigung des Denkmals forderten, weil die Opposition das „Solidarność“-Zeichen zu offensichtlichem politischen Zweck missbraucht habe. Am schlicht gehaltenen Denkmal sind zwei Zitate angebracht – eines von Ronald Reagan, der den ungebrochenen Willen zur Freiheit besingt, darunter das vom polnischen Papst: „Solidarität kam zur Welt. Ein Wendepunkt in der Geschichte unseres Volkes wie auch in der Geschichte Europas.“