26. Jahrgang | Nummer 7 | 27. März 2023

Anmerkungen zur Geschichte Russlands

von Stephan Giering

Russland. Kaum ein anderes Thema weckt derzeit im deutschsprachigen Raum so viele unterschiedliche Emotionen. Sinngemäß formulierte öffentlichen Aussagen hochrangiger Persönlichkeiten aus Deutschland wie „wir kämpfen einen Krieg gegen Russland“ oder „wir wollen Russland ruinieren“ machen mir Angst. Zum einen finde ich zum jetzigen Zeitpunkt weder in unserem Grundgesetz noch in auf Grundlage unserer Verfassung von der Bundesrepublik Deutschland eingegangenen supranationalen – also völkerrechtlichen – Verpflichtungen, wie dem NATO-Vertrag, eine rechtsstaatliche Grundlage, die solche Aussagen rechtfertigen würde. Zum anderen wecken solche Sätze in mir Erinnerungen an Formulierungen, die seinerzeit die nationalsozialistische Propaganda verwendete, um den barbarischen Vernichtungskrieg der deutschen Reichsregierung und ihrer Verbündeten gegen die Sowjetunion zu „legitimieren“.

Sowohl in meiner Schulzeit als auch in den Fernsehprogrammen der öffentlich-rechtlichen Sender wurde die Zeit des „Russlandfeldzugs“ sehr intensiv behandelt und oft mit dem Hinweis versehen, dass sich dies „als Lehre aus unserer Geschichte“ nie wiederholen dürfe. Anhand meiner eigenen emotionalen Reaktion auf solche Aussagen über Russland versuche ich exemplarisch aufzuzeigen, dass eine individuelle emotionale Reaktion oft mit der eigenen Lebenserfahrung zusammenhängen kann. Tatsache bleibt dabei, dass diese persönliche Wahrnehmung nicht mit einer historischen Gleichsetzung der damalig und heute Sprechenden verwechselt werden darf.

Doch nicht nur Erlebtes und Erlerntes, auch die medial vermittelten (Wert)-Vorstellungen über Russland beeinflussen die Meinung sehr vieler Menschen. Dennoch sind sowohl die eigene emotionale Wahrnehmung wie auch die aktuelle Berichterstattung jedweder Couleur noch lange kein umfassender Blick auf das große Ganze. Hilfreich für einen ganzheitlichen Blick auf dieses Thema kann die Beschäftigung mit der Geschichte Russlands sein.

Einen Einblick in die verschiedenen Epochen der Geschichte Russlands und ihre etwaigen Auswirkungen auf das heutige Geschehen gibt Orlando Figes in seinem Buchbestseller „Eine Geschichte Russlands“. Figes gilt als einer der renommiertesten Russlandkenner in der westlichen Welt. Er hatte jahrelang eine Professur an der University of London inne. Sein aktuelles Werk ist in elf Kapitel aufgeteilt. Es beginnt mit der Ursprungserzählung Russlands rund um die Kiewer Rus und endet mit einer erklärenden Einordnung des Autors zu den aktuellen Ereignissen in Europa seit dem Jahr 2022.Besonders gelungen an diesem Buch finde ich, dass es an einem beliebigen Kapitel aufgeschlagen werden kann, um etwas über das darin behandelte historische Thema und seine etwaige bis heute fortwirkende Bedeutung zu erfahren.

Überaus spannend ist das 3. Kapitel mit der Überschrift „Zar und Gott“. Darin erfährt der Leser, dass in der russischen Geschichte seit Iwan IV. (1530-1584), der den Beinamen „Der Schreckliche“ trug, Staat und Zar immer als eine Einheit gesehen wurden, dessen Legitimität sich direkt auf Gott gründete. Der Zar beherberge in seinem Körper wie Jesus Christus sowohl das Sterbliche als auch das Göttliche. Eine Trennung der Person des Zaren „in zwei Körper“ wie es im westlicheren Europa seit dem Mittelalter für die deutschen Kaiser galt, hatte sich in Russland nie ergeben. Im katholisch und protestantisch geprägten Teil Europas galt die Zwei-Körper-Theorie des Herrschers, nach der der Kaiser göttlich in seinen Funktionen, fehlbar jedoch in seinen menschlichen Entscheidungen sei. Auch unser säkulares Staatswesen kann darauf zurückgeführt werden. Diese Theorie gab es im russisch-orthodox geprägten Russland nie. Vielmehr galt es als heilige Pflicht des Zaren, die orthodoxe Christenheit zu regieren und zu beschützen. Daraus folgte die Auffassung, dass es Ketzerei sei, wenn man sich gegen die Verkörperung Gottes auf Erden, den Zaren, stellen würde.

Der Autor beschreibt in diesem Kapitel aber auch, dass die vor allem in der westlichen Welt verbreitete Vorstellung von „Iwan dem Schrecklichen“ als einen besonders grausamen Herrscher nicht den historischen Tatsachen entspräche. Er sei nicht „schrecklicher“ gewesen als jene Fürsten, die im westlichen Europa die Lehren von Niccoló Machiavelli anwandten. Spannend ist es zu erfahren, dass dieser noch heute weitverbreitete Mythos von einem besonders schrecklichen Zaren über ihn auf einen zweiteiligen Spielfilm aus der Stalinzeit zurückgeht. Der sowjetische Regisseur Sergei Michailowitsch Eisenstein sei für den ersten Teil von Stalin prämiert worden, erregte aber mit dem zweiten Teil des Films das Missfallen des Diktators. Stalin befürchtete, dass Szenen dieses Teils als eine Anspielung auf seine eigene politische Polizei gedeutet werden könnten und verbot die Aufführung. Das Kapitel endet mit einer Episode, in der Stalin dem Regisseur seine persönliche historische Bewertung Iwans „des Schrecklichen“ gibt. Stalin erläutert dem Regisseur, warum Iwan IV. „grausam sein musste“ und versucht mit diesem indirekten Zarenvergleich seine eigenen Grausamkeiten zu rechtfertigen. Dabei waren es doch gerade die Bolschewiki, die Zar Nikolaus II. und seine Familie 1918 ermorden ließen, um ihren Gegnern keine potenziellen Symbolfiguren zu überlassen, die ihrer neu errungenen Macht gefährlich werden konnten.

Nach dem Lesen dieses Kapitels erschließt sich mir besser, weshalb der amtierende russische Präsident ebenfalls versucht, sich auf die Zarenherrschaft zu berufen.. Orlando Figes vergleicht den amtierenden Präsidenten mit dem Zaren Nikolaus I. Über dessen Bedeutung für die russische Geschichte wird an anderer Stelle dieses lesenswerten Buches berichtet.

Orlando Figes: Eine Geschichte Russlands, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022, 447 Seiten, 21,99 Euro.