26. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2023

Andauernde Übersterblichkeit

von Ulrich Busch

In jeder Minute sterben Menschen, jede Stunde, jeden Tag, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr. Dies ist der Lauf des Lebens und Gesetz der Natur. So wie es im Leben einen Tages-, Monats- und Jahresrhythmus gibt, ein Auf und Ab der Lebensintensität, so gibt es einen solchen auch im Tode: Die meisten Sterbefälle ereignen sich während der Nacht oder in den frühen Morgenstunden. Jahreszeitlich weisen die Frühlingsmonate März, April und Mai die höchsten Sterbefallzahlen auf, gefolgt von den Wintermonaten Dezember, Januar und Februar. Die geringste Sterblichkeit findet sich überraschenderweise im Herbst. So besagt es jedenfalls die Langzeitstatistik für Deutschland und Mitteleuropa, sofern man von außerordentlichen Ereignissen wie Kriegen, Hungersnöten, Naturkatastrophen und Pandemien absieht. Danach beläuft sich die Zahl der jährlichen Sterbefälle in Deutschland im zurückliegenden Jahrzehnt auf 900.000 bis 1.000.000, wobei der Wert auf Grund des zunehmenden Anteils älterer Menschen an der Bevölkerung im Zeitverlauf ansteigt. Das sind derzeit im Durchschnitt rund 20.000 Sterbefälle pro Woche und rund 2900 pro Tag. Infolge der Corona-Pandemie kam es jedoch zu bemerkenswerten Abweichungen, was zu Irritationen bei der Analyse der Langzeitstatistik und zu Diskussionen in der Bevölkerung geführt hat.

Im Jahr 2020, mit Einsetzen der Pandemie, starben in Deutschland 985.572 Menschen, davon 47.860 an oder mit Corona. Diese Zahlen weisen seit dem Frühjahr 2020 auf eine beachtliche „Übersterblichkeit“ hin. Im Dezember überstieg die Zahl der Gestorbenen den mittleren Wert der Vorjahre sogar um 32 Prozent, im Frühjahr 2021 kam es infolge der nahezu ausgefallenen Grippewelle und trotz der neu aufgetretenen COVID-19-Todesfälle dann zu einer „Untersterblichkeit“. Das heißt, die Sterbefallzahlen stiegen nicht wie sonst um diese Zeit spürbar an, sondern gingen temporär zurück. Sie lagen im Februar (minus 2 Prozent) und im März (minus 6 Prozent) unter den Vergleichswerten der Vorjahre. Im April (plus 4 Prozent) und Mai (plus 7 Prozent) lagen sie jedoch sichtlich darüber. Im Juni (plus 8 Prozent) fiel die Corona-Welle mit einer Hitzewelle zusammen, was zu hohen Ausschlägen führte. Die Sterbezahlen überstiegen im September (plus 11 Prozent), im Oktober (plus 12), im November (plus 22) und im Dezember (plus 25 Prozent) deutlich die der Vorjahre. Dadurch gingen der Herbst und der beginnende Winter 2021 als eine Periode signifikanter Übersterblichkeit in die Geschichte ein. 2021 starben in Deutschland 1.023.700 Menschen, davon 71.331 an Corona.

Der dafür Verwendung findende Terminus „Übersterblichkeit“ stellt jedoch keine glückliche Begriffswahl dar. Zutreffender wäre es, von der „Zahl der Gestorbenen“, von „Sterbefällen“ und von einer „Sterberate“ zu sprechen, wobei letztere, gemessen an der Vorperiode, relativ hoch oder niedrig sein kann. Da die Sterblichkeit eine Eigenschaft des Menschen ist, bedeutet „übersterblich“ so viel wie „unsterblich“. Darum aber geht es bei dem statistischen Begriff „Übersterblichkeit“ gerade nicht. Vielmehr bezeichnet dieser Begriff eine über den Erwartungen liegende Anzahl von Sterbefällen.

Im Jahr 2022 traten sowohl während der Coronawellen als auch in den heißen Sommermonaten erhöhte Sterbefälle auf. Zudem gab es im Herbst wieder eine Grippewelle. Dadurch kam es zu mehreren Phasen von Übersterblichkeit. Insbesondere in den Monaten August (plus 11), Oktober (plus 19) und Dezember (plus 22 Prozent) lagen die Sterbefallzahlen signifikant über dem Mittel der Vorjahre. Insgesamt lag die Übersterblichkeit 2022 bei 9 Prozent. In Zahlen ausgedrückt sind das 88.500 Menschen, die 2022 über das normale Maß hinaus gestorben sind. Damit war die Übersterblichkeit im dritten Pandemiejahr noch höher als in den beiden Vorjahren (2020: 5,3 und 2021: 8,0 Prozent). Insgesamt sind seit 2020 (bis zum 20. Februar 2023) in Deutschland 167.289 Personen an Corona gestorben. Das entspricht rund 5,5 Prozent aller Todesfälle der Jahre 2020 bis 2022.

Während bei früheren Pandemien alle Altersgruppen, und besonders auch Jüngere, betroffen waren – zum Beispiel starben 1918 an der Spanischen Grippe viele Menschen zwischen 20 und 40 Jahren –, betraf die Übersterblichkeit 2022 ausschließlich Personen ab 65 Jahre. Diese Feststellung gilt auch für andere Länder. Die Verantwortlichen reagierten darauf mit besonderen Schutzmaßnahmen für Ältere. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass mit der häufigeren Disposition älterer Menschen, an Corona zu sterben, ein demografischer Effekt verbunden ist, nämlich die graduelle Reduktion der Überalterung der Bevölkerung. Wenn auch nicht in großem Maßstab, aber doch spürbar, hat sich dadurch der Anteil der Älteren an der Bevölkerung reduziert. Als Nebeneffekt ist dadurch allerdings auch die durchschnittliche Lebenserwartung leicht gesunken. Dabei spielt eine Rolle, dass das Coronavirus nicht nur unmittelbar zum Tode führt, sondern auch längerfristig anhaltende gesundheitliche Probleme verursacht, wovon neben Älteren auch Jüngere betroffen sind.

Zuletzt, im Januar 2023, sind die Sterbefallzahlen gegenüber dem Vormonat etwas zurückgegangen. Die Entwicklung hat sich aber noch längst nicht normalisiert. Im Januar starben in Deutschland 98.632 Menschen. Das sind rund 11.000 mehr als anhand der Vorjahreswerte zu erwarten war. Es gibt also immer noch eine Übersterblichkeit von 13 Prozent, die wesentlich auf die Corona-Pandemie zurückgeht. Da diese jedoch fast nur ältere und nicht mehr im Arbeitsprozess stehende Menschen betrifft, bildet sie keinen Hinderungsgrund mehr für die Aufhebung der in den Vorjahren getroffenen Schutzmaßnahmen und Einschränkungen. Jedenfalls aus ökonomischer Sicht. Der durch die anhaltende Übersterblichkeit und die im Frühjahr möglicherweise wieder ansteigenden Sterbefallzahlen entstehende wirtschaftliche Schaden ist verhältnismäßig gering. Das heißt, was für den Einzelnen und für die Familien einen schmerzlichen Verlust bedeutet, stellt sich für die Wirtschaft anders dar, ist für sie ohne Bedeutung oder sogar mit einem positiven Effekt verbunden. Den vulnerablen Gruppen, die durch die Zurückführung der Corona-Schutzmaßnahmen besonders gefährdet sind, wird aus medizinischer Sicht mehr Eigenschutz empfohlen. – So funktioniert Marktwirtschaft unter den Bedingungen andauernder Übersterblichkeit.