26. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2023

Die Krise der Gegenwart

von Stephan Wohanka

The medium is the message.

Marshall McLuhan

 

Dass die Welt sich aufgrund unzähliger miteinander verbundener Herausforderungen wie Klimakrise, Energiekrise Krieg und so fort in einem „traurigen Zustand“ befindet, wie UN-Generalsekretär António Guterres sagt, ist ein Allgemeinplatz. Dass gehandelt werden muss – desgleichen. Und doch bleibt es häufig lediglich bei der xten Wiederholung dessen, was zu tun sei.

Diese Wundenbespieglung hinter sich lassend: Wie konnte die Menschheit in diese missliche Lage kommen? Welche ideellen, paradigmatischen Muster verantworten sie?

Ich meine, dass die auf dem „Newtonschen Paradigma“ fußende gegenwärtige Ökonomie (und Gesellschaft) mit ihrem linearen respektive hierarchischen Aufbau – Stoffentnahme aus der Natur; Verarbeitung dieser Stoffe in der Produktion; Wegwurf der Exkremente und vernutzter Produkte zurück in die Natur – sowie der Subsumtion von Natur und Mensch unter die „Maschinerie“ grundsätzlich und radikal überwunden werden muss!

Diesem Paradigma zugrunde liegen die Entdeckungen Isaac Newtons zur klassischen Mechanik. Als breiter Strom aus der Naturwissenschaft drang dieses „Mechanische“ über die Gesellschaftswissenschaft in sämtliche soziale und geistige Lebensbereiche – Gesellschaft, Staat, Produktion, Kultur, Gedankenwelt, Ideologie – ein und wurde schließlich zum Leitbild wissenschaftlich-technologisch-ökonomischer Rationalität überhaupt. Diese Entwicklung ging einher sowohl mit der Säkularisierung, also der Lösung der Menschen aus religiöser Gebundenheit, als auch mit dem weiterhin „verbindlichen“ biblischen Motto: „Macht euch die Erde untertan!“ Diese unverändert gültige Prägung beeinflusst bis heute unseren Umgang mit der natürlichen Umwelt. Die kapitalistische Zivilisation verbreitete diese Hybris inzwischen weltweit.

Verfestigung und Potenzierung erfuhr dieses Weltverständnis dadurch – wie der oben zitierte Medienwissenschaftler Marshall McLuhan in seinem Buch „Understanding Media: The Extensions of Man“ (1964) schrieb –, dass die Auswirkungen jedes neuen Mediums, oder breiter: jeder Technologie, über den spezifischen Inhalt ihrer Botschaft respektive den Kontext ihrer Verwendung hinaus gehen: „Wir formen unsere Werkzeuge, und dann formen die Werkzeuge uns.“ Der Buchdruck liefert den Beweis: Er prägt mit seinem linearen Zeilen- und Seitenaufbau unsere Wahrnehmung, unser Denken und unsere Weltsicht ebenfalls „linear“; mit nachhaltiger Wirkung.

Der menschliche Übermut gegenüber der Natur ging von deren unbegrenzten Ressourcen aus. Er lud regelrecht ein zur forcierten „Zerlegung der Natur in ihre einzelnen Teile, die Sonderung der verschiedenen Naturvorgänge und Naturgegenstände in bestimmte Klassen“, wie Friedrich Engels es ausdrückte. Die dadurch gewonnene Erkenntnis gesonderter physikalischer, chemischer und sonstiger Wirkprinzipien war technologisch wertvoll, führte aber zugleich zu einer Vereinzelung, zu einer ideellen Segmentierung der jeweils untersuchten Naturobjekte, mit all ihren späteren Folgen. Dem produzierenden Menschen erging es nicht besser: „Die technische Unterordnung des Arbeiters unter den gleichförmigen Gang des Arbeitsmittels … schaff[t] eine kasernenmäßige Disziplin, die sich zum vollständigen Fabrikregime ausbildet“, schrieb Karl Marx; und weiter: „Selbst die Erleichterung der Arbeit wird zum Mittel der Tortur, indem die Maschine nicht den Arbeiter von der Arbeit befreit, sondern seine Arbeit vom Inhalt.“

Dieses linear-hierarchische Wissenschafts-, Produktions- und Gesellschaftssystem ist an seine Grenzen gekommen; bah – hat sie überschritten. Es hat seine klassische Legitimation als zentrale Innovations- und Steuerungskapazität weitgehend verloren – zumal für eine Zukunftsgestaltung. Gebrochen werden muss mit dem undialetktischen, linear-kausalen Determinismus, dem wir weiterhin auf Schritt und Tritt entweder als Denkform oder aber seinen Versachlichungen begegnen. Der unbändige Verwertungsdrang des Kapitals dominiert weiterhin; auch wenn der Kapitalismus um Institutionen wie digitalisierte Aktien- und Geldmärkte, aber auch Produktions- und Transportmöglichkeiten und so fort „reicher“ ist. Aber diese IT-dominierte Industriegesellschaft 4.0 vermag die „paradigmatische Erschöpfung“ nicht zu durchbrechen und steht für ein sich ausbreitendes Unbehagen an Gesellschaft, Kultur und Demokratie, für Politikverdrossenheit, Zukunftsängste und stärker werdende Phobien, auch gegen Fremde. Die Menschheit agiert heute unter Bedingungen kaum noch erfassbarer Komplexität, einer früher nicht gekannten Unübersichtlichkeit und nichtintendierter Handlungsfolgen.

Eine erste und wohl wichtigste Herausforderung liegt darin, die Unterordnung der Natur unter die „Maschinerie“ zu überwinden. Namentlich die technologische Instrumentalisierung der Natur ist zurückzunehmen; der konstruierte Widerstreit zwischen Mensch und Natur ist aufzulösen. Erst wenn sich der Mensch wieder als Teil der Natur versteht, wird ihm klar werden, dass Naturzerstörung der andere Name der menschlichen Selbstzerstörung ist. Wir sind Teil des Ökosystems und die multiplen ökologischen Krisen sind keine Krisen der Medien, sondern sind „Menschheitskrisen“. Immer noch wird die Erde durchfurcht auf der Suche nach Rohstoffen, immer noch werden Luft, Wasser und Boden als Senken für die „Exkremente“ von (Über)Produktion und Konsumtion missbraucht und verschmutzt. Wir selbst nehmen uns den Atem, das Wasser, die Lebensräume. Kämpfe um die natürlichen Ressourcen sind an der Tagesordnung; sie nehmen zu, schüren das Misstrauen der Menschen und Staaten zueinander und erschüttern die politische Stabilität des Globus.

Und es irrt, wer meint, zumindest die Produzenten seien aufgrund der rasanten Technologieentwicklungen der „kasernenmäßigen Disziplin“, der Arbeit als „Mittel der Tortur“ entkommen. Symptomatisch dafür sind die die Digitalisierung tragenden Produkte und Leistungen: Moderne iPhones werden hauptsächlich vom Unternehmen Foxconn in Zhengzhou zusammengebaut; der Standort mit seinen 5,6 Quadratkilometern beschäftigt mehr als 350.000 Mitarbeiter – monotone Fließbandarbeit. Der letzte Schrei der Künstlichen Intelligenz – das Kreieren von Texten mittels ChatGPT. Dahinter stecken Tausende in Indien oder Kenia arbeitende Billiglöhner mit weniger als zwei Dollar die Stunde. Sie trainieren mit frei zugänglichen Internet-Texten das System, einen sogenannten Chatbot, um eine Art Verstand zu schaffen, der zu den vermeintlich „intelligenten“ Elaboraten führt. Dafür durchforsten diese Clickworker stundenlang unerwünschte Bilder und Texte, was oft traumatisierend ist. Bald wird man für solche Texte bezahlen müssen. Menschen, die Texte schreiben und davon leben – auch Wissenschaftler –, könnten ein Stück ersetzbarer werden, ihre Arbeit wird prekär. Beispielhaft sind auch andere „digitale Tagelöhner“ – jene Fahrradkuriere mit pinken oder türkisgrünen Thermoboxen auf dem Rücken.

Ein neues Produkt der Genussmittelindustrie führt jedwedes Bemühen um die Umwelt ad absurdum: die sogenannten Vapes oder Einweg-E-Zigaretten; zu gut deutsch Wegwerf-Dampfer. „Aufwendig in der Herstellung, haben sie eine kurze Lebensdauer und verschwenden knappe Rohstoffe, wie etwa Seltene Erden“, aber auch Quecksilber, Cadmium und Blei. Sie landen im Restmüll; durch Akkus darin kommt es immer häufiger zu Bränden in Recyclingbetrieben. Schwermetalle verbreiten sich in der Umwelt und in der Nahrungskette und schädigen die Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen.

Natürlich trägt die Wissenschaft auch mit wertvollen Beiträgen zur Gesundung der Lage bei. Aber Vorsicht, Beispiele zeigen, dass selbst neueste Technologien nicht (immer) über das tradierte Paradigma hinausweisen, sondern lediglich dazu dienen, es aus seiner Saturierungsphase herauszubringen; in Wahrheit halten sie es darin fest. Es werden – teilweise vermeintlich auf „natürliche“ Weise – nur tradierte Produktions- und Konsummuster quantitativ fortgeschrieben, deren Nachhaltigkeit schon lange infrage steht.

Zurück zum Eingangsmotto: Das-Sich-Ankleben der „Letzten Generation“ recycelt eine „Message“ aus der Vergangenheit. Aus einer derartigen Anleihe kann kein echter Aufbruch entstehen. Die Botschaft sollte lauten: „Erste Generation“ sein zu wollen, die an Veränderungen arbeitet!