26. Jahrgang | Nummer 3 | 30. Januar 2023

Versuchen wir es doch mal wieder mit Beutelsbach

von Klaus-Dieter Felsmann

Beim diesjährigen Neujahrsfrühschoppen um die Mittagstunde herum klopften in meiner dörflichen Stammkneipe müde Gestalten mit Wünschen für Frieden, Wärme in der Stube und im Herzen und allseitiger Gelassenheit auf den Tisch. Das klang ähnlich, wie im öffentlichen Raum oder im sonstigen privaten Kreis. Geradezu inflationär häuften sich Mahnungen gegenüber jeglichem Hass und umgekehrt Sehnsüchte nach Gemeinsamkeit. Hier verdeutlichte sich innerhalb der üblichen Sentimentalitäten zum Jahreswechsel ein offensichtlich weit verbreitetes Defizitgefühl.

Das kann kaum verwundern, denkt man an den Krieg im Osten Europas, dem der Einzelne mehr oder weniger ohnmächtig gegenübersteht. Doch die entsprechenden Wünsche bezogen sich darüber hinaus ausdrücklich, wenn nicht gar in erster Linie, auf die Verhältnisse unseres unmittelbaren Lebensumfelds. Hier liegt einiges im Argen und wenn man auf die Erregungen sieht, die aufwallten, noch bevor die letzten Grüße gelesen waren, weiß man auch warum. Hierzulande ist der produktive gesellschaftliche Dialog verloren gegangen. Man tauscht nicht mehr Argumente aus, um zu einem demokratisch verankerten Konsens zu kommen, sondern Rechthaber verschanzen sich hinter der jeweiligen Barrikade, um von dort keinen Schritt zu weichen.

Erster Anlass, um aufeinander einzuprügeln waren die Krawalle in der Silvesternacht in einigen Hotspots Berlins und anderer deutscher Großstädte. Bei der Auswahl der entsprechenden Bilder waren scheinbar nur Redakteure beteiligt, denen jegliches Silvesterböllern ein Graus ist. Folgerichtig fühlten sich zunächst alle Verbotsfetischisten bestätigt, die Feuerwerk schon immer von den Straßen verbannen wollten. Ganz gleich, ob bei irgendwelchen Feiern zur Silberhochzeit – worüber man wirklich nachdenken könnte – oder als Traditionskultur zum Jahreswechsel. Differenzierung, das ist keine Sache solcher Leute. Doch dann wurde es kompliziert. Diejenigen, die als Freudenfeuer gedachte Raketen aggressiv auf Feuerwehrleute und Sanitäter abschossen, waren – im Internet reichlich dokumentiert – überwiegend junge Männer, deren kulturelle Wurzeln nicht in Europa liegen. Und schon begann das leider üblich gewordene Hauen und Stechen.

Auf der einen Seite wird etwa behauptet, die da randaliert haben seien jene, die auch ihre Unterkünfte auf Lesbos angezündet hätten und die nun massenhaft nach Deutschland geholt worden wären. Das ist ebenso schlicht gedacht, wie das Mantra derjenigen, die Einwanderung an sich als einen Wert betrachten. Beide Positionen sind irgendwie subjektiv erklärbar, doch im Subjektiven sollte die Diskussion nicht stecken bleiben. Man muss überzeugende Argumente für seine Sache vorbringen und man sollte vor allem bereit sein, dem anderen zuzuhören. Von Beidem sind wir meilenweit entfernt. Wenn CDU-Chef Merz „kleine Paschas“ als Problemgruppe benennt, kontert der Slam-Poet und WDR-Moderator Jean-Philippe Kindler auf seinem Instagram-Account: „Die CDU ist unser Feind“ und ruft zu entsprechender Hetze auf. Teile der CDU hängen seiner Meinung nach „faschistoiden Phantasmen“ an.

Hier holt der fünfzig Jahre nach Ende des II. Weltkrieg Geborene die schlimmste moralische Keule raus. Wenn man aus der die Kulturhoheit anstrebenden universalistischen Blase heraus gar nicht mehr diskutieren will, dann heftet man den Kontrahenten einen faschistischen Flicken an den Rock. So leichtfertig können Menschen mit diesem Attribut nur dann umgehen, wenn sie vom Faschismus als solchen keine wirkliche Ahnung haben. Kindler wird medial weitgehend toleriert. Jedenfalls konnte ich keinen Aufschrei vernehmen. Anders, wenn die Brandenburger CDU-Politikerin Saskia Ludwig im Zusammenhang mit neuen Rationierungsvorschlägen bezüglich der CO2-Schleuder Mensch ebenso fahrlässig von „Faschismus mit grünem Antlitz“ spricht. Die Landesvorsitzende der Grünen Julia Schmidt erwidert prompt, das sei eine Entgleisung, mit der Ludwig wohl am äußeren rechten Rand fischen wolle. Dafür erhält sie medialen Beistand. Letzteres ist wegen der Unausgewogenheit das eigentliche Problem. Von Frau Ludwig habe ich persönlich bei deren jahrzehntelangem Wirken in der Brandenburger Landespolitik nie etwas wirklich Erhellendes vernommen. Doch ich würde gerne wissen, was sie mit ihrer drastischen Formulierung meint. Ansonsten bauen sich nicht nur in diesem Fall a priori unversöhnliche moralische Antipoden auf und über den Sachverhalt als solchen wird gar nicht mehr geredet. Satiriker Kindler beklagt übrigens, dass die Zuordnung der „kleinen Paschas“ in der Mehrheitsgesellschaft unwidersprochen bleibe.

Na, da sollte er mal in meine Kneipe kommen. Da wird nicht nur nicht widersprochen, da wird in diesem Fall sogar einhellig zugestimmt. Danach ist das Thema aber genauso schnell abgehakt, wie die kurze Anmerkung, dass man sein Geld mit dem Einbau von Wärmepumpen in Berliner Vorstadthäusern verdient, selbst aber nie daran denkt, so etwas Unsicheres ins eigene Haus zu lassen. Angst vor Habecks Zwang haben die Handwerksexperten nicht. Sie kennen die Materiallage. Ausführlich und begeistert wird allerdings vom eigenen Silvesterfeuerwerk erzählt. Jemand meint, er habe tausend Euro dafür ausgegeben. Vielleicht ein kleiner Münchhausen? Doch irgendwie müssen ja die Container mit Knall-und-Leuchtdingen in den Supermärkten leer geworden sein. Und in der Nacht strahlte es tatsächlich gewaltig über den Dörfern. Nach zwei Jahren Corona-Abstinenz erschien alles wie eine Befreiung und es war fröhlich. Warum wurde darüber nicht geschrieben?

Die Mehrheitsgesellschaft ist schon ein eigenartig Ding. Jedenfalls denkt und spricht sie selten so, wie es sich die modernen Kulturrevolutionäre vorstellen. Ergo müssen Erziehungsprogramme her. Ein „Demokratieförderungsgesetz“ klingt gut. Nur wenn ein solches Gesetz allein dadurch dominiert wird, dass die Prioritäten der urbanen, hochqualifizierten Mittelklasse innerhalb der Gesellschaft der Singularitäten (Andreas Reckwitz, vgl. Blättchen 1/2018) durchgesetzt werden sollen, dann führt es jeglichen demokratischen Denkansatz ad absurdum. „Diskriminierungskritisch“, „gendergerecht“ oder „dekolonial“, über alles kann man sprechen. Nur wenn dies – unter Ausgrenzung aller sozialen Aspekte – Ingredienzien einer imperativ gehandhabten Ideologie werden, dann verwandelt sich der Demokratieanspruch in einen Mantel für im Kern totalitäres Denken.

Aktuell schießen derzeit diverse Gängelbehörden aus dem Boden, die die genannten Attribute im öffentlichen Raum durchsetzen sollen. Mir kommen angesichts dessen jene Korridore in Behörden, Hochschulen oder Betrieben in der DDR in Erinnerung, an deren Bürotüren solche Abkürzungen wie DSF, ZPL, GST, FDJ, BGL oder DFD zu lesen waren. Von dort aus trug man nichts zur Wertschöpfung bei, doch man verfügte über beträchtliche Mittel, um ideologische Wohlgefälligkeit zu generieren. Im Rückblick zeigte sich letztendlich, die damaligen NGOs zauberten in erster Linie eine Kultur der „gespaltenen Zungen“ aus der Retorte. Es wurde so getan, als sei man Repräsentant des Zeitgeistes, in Wirklichkeit wurde eine Chimäre befeuert. Die Büros mit den genannten Bezeichnungen waren 1990 konsequenterweise schneller verschwunden, als dass man eine letzte Abfindung in Westmark hätte zahlen können.

Vielleicht hilft es angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verwerfungen, aus verfestigten Denkzirkeln, modern gesagt der jeweiligen Blase, herauszutreten und sich den ganzen Schlamassel von außen anzusehen. Historische Vergleiche zur DDR, wenn man sie nicht nur als Mittel zur eigenen Überhöhung nutzt, könnten da durchaus eine Anregung sein. Doch auch die Geschichte der Bonner Republik böte hinreichend Impulse. Man lese nur Heinrich Bölls Nobelpreisrede von 1973. Dort wettert ein wahrer Demokrat nicht nur gegen „linke Eiferer“, sondern er erinnert auch an den „dichten Wald von deutschen Zeigefingern“, durch den er zu Beginn seines Schreibens gehen musste.

Oder wie wäre es mit dem „Beutelsbacher Konsens“ von 1976? Damals hatte sich eine Kontroverse um die Ausrichtung der politischen Bildung zwischen linken Kräften, die aus der Studentenbewegung hervorgegangen waren, und Trägern einer konservativen Staatsausrichtung zugespitzt. Die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg lud angesichts dessen zum klärenden Gespräch in ihr Tagungshaus nach Beutelsbach ein. Heraus kam eine Art konsensorientierter Kodex für die politisch orientierte Bildungsarbeit. Schüler dürften nicht im Sinne erwünschter Meinungen überrumpelt werden. Sie seien bei der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ zu unterstützen. Wenn bei der Diskussion „unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben“ sei der Weg der Indoktrination beschritten. Schüler, und nicht nur die, müssten in die Lage versetzt werden, eine politische Situation im Verhältnis zur eigenen Interessenlage zu analysieren, sowie aus der eigenen Perspektive auf die entsprechende Situation Einfluss zu nehmen. So kann aus meiner Sicht Demokratie funktionieren. Allerdings wäre das nicht der einfache Weg.

Ein hilfreicher Einstieg könnte vielleicht die Straßenverkehrsordnung § 1 sein: „Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.“