21. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2018

Singularitäten

von Klaus-Dieter Felsmann

Bevor ich die vorliegende Publikation aufgeschlagen habe, informierte mich meine Morgenzeitung beim Frühstück, dass die neue Zugspitzseilbahn eingeweiht worden ist. Mit einer Panoramagondel für 120 Personen hofft man, jährlich mindestens 600.000 Menschen auf den Gipfel des höchsten deutschen Berges bringen zu können. Solcherlei Zahlen beflügelten bei mir Skepsis und Neugier gleichermaßen, als ich danach bei Andreas Rackwitz gleich auf der ersten Seite seiner komplexen Analyse der Gegenwartsgesellschaft lesen konnte, Reiseziele könnten sich nicht länger damit begnügen, „einförmige Urlaubsziele des Massentourismus zu sein“.
Der Autor versteht diese These als Teil einer anschaulichen Einführung in seine Darstellung soziologischer Konsequenzen, die sich aus dem Wandel unseres Gemeinwesens von einer Ökonomie der Moderne hin zu spätmodernen Strukturen ergeben. Als zentrales Merkmal dieses Wandels hebt er die Ablösung der sozialen Logik des Allgemeinen durch eine soziale Logik des Besonderen hervor. In der Konsequenz führe das zu einer „Gesellschaft der Singularitäten“, was letztendlich als modifizierte Weiterführung des klassischen Individualitätsbegriffs zu verstehen ist. Wie passt das zu der touristischen Masse, die sich auf dem Zugspitzplateau auf den Füßen stehen wird? Innerhalb des Theoriegebäudes von Andreas Reckwitz im Grunde genommen allenfalls indirekt. Er hat Protagonisten im Blick, die Panoramablicke von den Gipfeln Nepals oder der Anden anstreben. Die urbane, hochqualifizierte Mittelklasse stellt aus seiner Sicht die Avantgarde dar, die auf dem Weg von einem industriellen zu einem kulturellen Kapitalismus vorangeht.
Dem gegenüber steht eine alte, konservative Mittelschicht, die sich von der Postmoderne überfordert fühle und eine Unterschicht, die Mangels Qualifikation mehr und mehr ins wirtschaftliche Abseits gerät. Daraus ergibt sich eine wohlsortierte Drittelgesellschaft, deren Chancen, Konflikte und Risiken Rackwitz als Advocatus jener modernen Mittelschicht herausarbeitet. Eine Oberschicht spielt interessanterweise keine Rolle. Mit ihr müsste allerdings über eine Viertelgesellschaft gesprochen werden, was wiederum die wohlgeordneten Koordinaten im vorliegenden Theoriegebäude leicht durcheinander bringen würden.
Dieses Defizit sollte den an sozialen Entwicklungen interessierten Leser aber ebenso wenig von der Lektüre des vorliegenden Buches abhalten, wie die Erinnerung an Immanuel Kant, der Allgemeines und Besonderes als sich wechselseitig bedingende duale Einheit interpretiert hat. Von letzterer philosophischer Sichtweise grenzt sich Reckwitz als Soziologe explizit ab. Er sieht eine Welt, die sich an singulären Parametern derart deutlich ausrichtet, dass damit für die Akteure Konsequenzen von einzigartiger, Realität unmittelbar prägender, Reichweite verbunden sind. So bringt die Gesellschaft der Singularitäten völlig neue soziale und kulturelle Polaritäten hervor.
Wer wissen will, warum frühere entsprechende Zuweisungen, wie etwa das politische Links-Rechts-Schema, nicht mehr so richtig funktionieren, der findet im vorliegenden Text interessante Erklärungen. Güter finden ihre Bewertung eher über die Art, wie sie sich präsentieren, weniger über die Frage ihrer tatsächlichen Nützlichkeit, Menschen die kulturelle Singularitätsgüter verfertigen erlangen einen höheren Status als jene, die sich um das Profane kümmern und divergierende Lebensstile führen zur Polarisierung sozialer Räume. Letzteres betrifft nicht nur regionale oder nationale Dimensionen, sondern auch globale Bezüge. Auf all diesen Feldern ergeben sich Konfliktlinien, die sich in politischem Handeln niederschlagen. Wer diesbezüglich etwa in Parametern des vorigen Jahrhunderts denkt, dem kommt ein Jamaika-Bündnis eher abwegig vor. Wer die hier vorliegende Charakterisierung einer neuen Mittelschicht, die deutlich wahrnehmbar den öffentlichen Diskurs hierzulande bestimmt, ernst nimmt, dem muss Jamaika geradezu als logische Konstellation erscheinen.
Wenn da nicht der Imperativ zur Herausstellung von Einzigartigkeit wäre, der der spätmodernen Gesellschaftskonstruktion immanent eigen zu sein scheint.

Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten – Zum Strukturwandel der Moderne, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 480 Seiten, 28,00 Euro.