Mit Goethe-Biografien könnte man sicher leicht einen Bücherschrank füllen, so oft und viel ist über ihn zusammengetragen und geschrieben worden. Die Spanne reicht dabei vom Arzt und persönlichen Goethe-Freund Carl Gustav Carus bis zu dem zeitgenössischen Autor Stefan Bollmann, der erst im vorigen Jahr unter dem Titel „Der Atem der Welt“ ein überraschend neues Bild des Dichterfürsten zeichnete und dabei den Naturforscher und Naturschriftsteller Goethe entdeckte.
Nun hat der englische Schriftsteller und Germanist Jeremy Adler eine neue Goethe-Biografie vorgelegt. Sie ist das Produkt einer langjährigen Beschäftigung mit dem Dichter und natürlich einer großen Leidenschaft. Der emeritierte Professor für deutsche Sprache am King’s Colloge London betrachtet Goethe von vielen Seiten und kommt zu dem Schluss, dass Goethe mit Recht als Ur-Vater der Moderne gelten kann. Und schon die Aufzählung seiner Betätigungsfelder und Aktivitäten löst bei Adler Bewunderung aus. Ob Literatur, Sprache, Geschichte, Naturwissenschaften oder Politik – keiner erreichte in seinen Leistungen solch eine Bandbreite. Kunst und Wissenschaft bildeten bei Goethe stets eine Einheit.
Bereits in seiner Einleitung unterstreicht Adler Goethes Originalität, der Ideen aus allen Bereichen aufnahm und dessen Gedanken in zahllose Gebiete hineinreichten. In den folgenden 27 Kapiteln wird dann diese Wirkung von Goethes Denken auf vielen dieser Felder aufgezeigt. Während Goethes Bedeutung in der Weltliteratur dabei unbestritten ist, wird nach Ansicht des Autors bisher nur unzureichend beachtet, „wie nachhaltig er die Entwicklung der modernen Zivilisation mitgeprägt hat“. Die vielfältigen Interessen Goethes sind nun an sich keine neue Erkenntnis, häufig zusammengefasst unter den Begriffen „Renaissance-Mensch“ oder „der letzte Universalgelehrte“. Adler geht jedoch einen neuen Weg, indem er versucht zu beweisen, dass Goethe am Anfang vieler Ideen und Themen stand, die erst viel später (bis in die Gegenwart hinein) zur Entfaltung kamen.
Sein „Wilhelm Meister“ war Vorbild für die deutschen Romantiker, später überwogen allerdings die kritischen Töne. Aber auch der Historismus, die Erlebnislyrik, der europäische Liberalismus, die Globalisierung unseres Denkens und sogar die Kritik an der kapitalistischen Arbeitsteilung haben ihren Anfang bei Goethe. Die Thesen, die Karl Marx in seinem Kapitel „Große Industrie und Agrikultur“ in „Das Kapital“ aufstellt, finden sich auch im „Faust“. Später übernahmen Michael Bulgakow, Boris Pasternak, Karl Kraus oder Thomas Mann die Motivik des „Faust“, um mit der „faustischen Welt“ in ihren Ländern abzurechnen.
Goethes Dichtkunst und seine naturwissenschaftlichen Beschreibungen fanden ihren Weg auch in die modernen Naturwissenschaften. So waren die Gebrüder Humboldt, Hermann von Helmholtz oder Albert Einstein nicht nur begeisterte Goethe-Leser, sie wurden auch von seinen Ansichten inspiriert und übernahmen seine ganzeinheitlichen Betrachtungsweisen. Dieser Einfluss Goethes wirkt sogar bis in unsere Tage, zum Beispiel in der Chaostheorie, die als Teilgebiet der Physik den Grenzbereich zwischen Vorhersagbarkeit und „Chaos“ untersucht. Darüber hinaus vertritt Adler die Ansicht, dass Goethe unsere ganze Art zu fühlen und zu denken beeinflusst hat – ja unsere ganze Art „Mensch zu sein“.
Obwohl sich Goethe selbst nie als Philosoph gesehen hat, waren seine Naturanschauungen geprägt von der Idee einer fortschreitenden Entwicklung und er hatte mit seinen Vorstellungen Einfluss auf die frühen Studien von Charles Darwin. Damit wurde Goethe auch zu einem Impulsgeber des modernen Weltbildes.
Darüber hinaus erzählt Adler von Goethes Begegnungen mit den Geistesgrößen seiner Zeit. Er hat sie beeinflusst und sie haben von ihm gelernt.
Die Begegnung mit dem französischen Kaiser Napoleon am 2. Oktober 1808 in Erfurt allerdings war ein Treffen von Geist und Macht. Schlüssig legt Adler die eminenten Folgen dar: aus dem Dichter Goethe wurde ein politischer Mensch. Zu einer weiteren denkwürdigen Begegnung kam es während eines Sommeraufenthaltes 1812 in Teplitz – zwischen Goethe und Beethoven, den zwei Titanen der deutschen Klassik, die sich künstlerisch sehr schätzten. Von Goethes Seite war es jedoch eher ein reserviertes Interesse; so blieb es bei diesem einen Treffen.
Adlers erhellendes und doch unterhaltsames Buch ist weniger eine chronologische Biografie; vielmehr ist es sein Anliegen, Goethes Denken mit erzählerischen Mitteln in der engen Verzahnung von Literatur, Naturwissenschaft, Geschichte und Politik in ihrer ganzen Bandbreite und Fülle darzustellen. Dabei untermauert der Autor mit vielen Fakten und Details sowie zahlreichen Belegen aus Goethes Werken seine Interpretationen und Thesen, die einen ganz neuen Blick auf Goethes Vielseitigkeit erlauben.
Jeremy Adler: Goethe – Die Erfindung der Moderne, Verlag C.H. Beck, München 2022,
655 Seiten, 34,00 Euro.
Schlagwörter: Goethe, Jeremy Adler, Literatur, Manfred Orlick, Moderne, Naturwissenschaft, Politik