25. Jahrgang | Nummer 26 | 19. Dezember 2022

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Platonow“ – Deutsches Theater / „Stürmt die Höhen der Kultur!“ – Buchtipp / Gruß zum Jahreswechsel.

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DT: Wie das ist, das Altsein

Damals wars, vor vierzig Jahren. Platonow, ein Schlawiner in seinen besten Jahren, mimt als kleines Dorfschulmeisterlein inmitten der Provinz-Prominenz den Großintellektuellen vor Ort. Damit fällt er zwar allen auf die Nerven. Doch anderseits unterhält er sie, die da wie gelähmt sich langweilen in abgeschiedener Ereignislosigkeit, aufs erregendste: Mit aufrührerischen Wahrheiten reißt er ihnen Masken der Wohlanständigkeit und Lebenslügen herunter, legt kleinbürgerliche Fratzen zynisch frei und fasziniert zugleich mit geistreichen Fantasien, philosophischen Exkursen, mit Charme und Sexappeal. Wo er auftritt brennt die Luft, flammen Begeisterung und Abscheu. Dabei ist der so geistreich eloquente wie unverschämt provokante Entertainer mit seinen 35 Lenzen bereits eine lebende Wodka-Pulle. Und so torkelt der kaputte schöne Kerl durch die Salons und in die Betten.

Platonow, ein hochmütiger Lügner, ein gerissener Verführer. Ein nihilistisches „Arschloch“ und die Hauptfigur in Anton Tschechows frühem Stück von 1880, das erst 1928 aus dem Nachlass publiziert wurde. Michael Wasiljewitsch Platonow – eine tragische Elendsfigur unter „lebenden Steinen“. Die wiederum sind, auf andere Art, gleichfalls tragisches Personal, versackt in Stagnation, verklemmt in der Tretmühle des Lebens. Was für eine Vorlage für tolles Theater.

Der russische Emigrant und bewundernswerte Regisseur Timofej Kuljabin gibt jetzt im DT der klassischen Vorlage einen tollen neuen Dreh: Tschechows breit angelegte, personenreiche Geschichte spielt nunmehr vier Jahrzehnte später in einem Seniorenheim für Bühnenkünstler „irgendwo in Russland“ (Mitarbeit an der großartig konzentrierten Kammerspielfassung: Roman Dolzhanskiy, Textredaktion Olga Fedyanina, John von Düffel).

Das alte Spiel sich wiederholend in gleicher Besetzung, nun aber in Rollstühlen und Stützstrümpfen. Platonow, jetzt Ex-Schauspieler, Mitte siebzig und versoffen wie eh und je (Alexander Khuon), fällt mit Anhängsel, die gedemütigten Ehefrau (Linn Reusse), und mit wehender Fahne großspurig ein ins Gehäuse der klapprigen, sich gegenseitig anödenden Veteranen der Bühne. Und prompt wird er wie einst bestaunt, bewundert, verflucht, gehasst und sogar geliebt. Wieder brennt die Luft, freilich auf kleinster Flamme.

Wie grotesk das alles ist! Obgleich sie doch alle stehen an den Marken ihrer Tage, ist da noch immer ein Sehnen und Wollen bis fast zuletzt, das in dieser so besonderen Inszenierung so ans Herz greift. Man will begehrt sein; oder wenigstens gesehen, gewärmt.

Will, wenn auch mit letzter Kraft, sich noch einmal aufraffen vom Sofa, die Müdigkeit beiseite wischen, die innere Leere wenigstens ein bisschen auffüllen. Oder gar aufbegehren gegen dieses schrecklich faszinierende, schrecklich charmierende Großmaul Platonow, das um Mitleid bettelnd im eigenen Unglück sich suhlt: „Selbst Ratten können eine menschliche Visage nicht so benagen, wie es mein Leben getan hat.“ Und das obendrein mit womöglich letzter Lust seine verlogenen Verführungskünste in Anschlag bringt.

Dieser leise, behutsam und genau inszenierte Abend umkreist wehmütig eine bittere, ja entsetzliche Vergeblichkeit. Sowie ein großes, geradezu unheimliches Sehnen, das da trotzig-irrwitzig aufblitzt im Dämmer verstockt banaler Alltäglichkeit – erstaunlicherweise entgegen sämtlicher Lebenserfahrung, entgegen aller Vernunft.

Was vor allem die Frauen betrifft, die Diven des Theaters von einst (Katrin Wichmann, Brigitte Urhausen, Birgit Unterweger). Aber auch die Männer (Enno Trebs, Manuel Harder, Max Thommes) in ihren wirren Gefühlslagen aus alter kollegialer Freundschaft, Neid, Bewunderung, Verachtung, Wut.

Ein derart feinfühliges, zwischen Verlangen und Verweigerung, Trauer und Komik, Euphorie und Katzenjammer sanft schwankendes, letzte Daseinsfragen behutsam berührendes Menschentheater ist selten. Es macht uns demütig und beglückt, obgleich da nichts Tröstliches ist. Dafür wird Wahres leichthin gespielt in einem schwer melancholischen Endspiel.

Die wie auch immer geartete Gier nach einem Hauch Zukunft mag vielleicht nimmer aufhören. Was immer aber bleibt ist schmerzvoll wissende Ergebenheit ans Unausweichliche. – Ein Abschiedsabend. Unvergesslich.

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Buchtipp: DDR-Theater – Schlachtfeld-Berichte

Dass ein Staat seinen Theaterbetrieb für wichtig hält, ist ja zunächst prima. Er lässt sich diese Wichtigkeit ja auch einiges kosten, ist nicht knauserig. Nimmt er Theater jedoch zu wichtig und noch dazu als ideologisches Machtinstrument, wird es gefährlich für die Kunst, sogar tödlich – wie damals in der DDR.

In einem sehr detailreichen und gerade deshalb äußerst aufschlussreichen Rückblick hinein in die vier Jahrzehnte DDR-Theater gibt das reich bebilderte Buch „Stürmt die Höhen der Kultur! Umkämpftes Theater in der DDR“ von Manfred Karge und Hermann Wündrich.

Karge, Regisseur und Schauspieler mit Ost-West-Biografie, und Wündrich, Dramaturg mit reiner West-Biografie, kamen zusammen in Claus Peymanns Berliner Ensemble und etablierten dort zwischen 2013 und 2017 eine höchst erfolgreiche Veranstaltungsreihe zum umkämpften, missliebigen DDR-Theater. Und machten daraus ein spannendes Geschichtsbuch voller Geschichten, Skandale, Verbote und Vergessenem, Sensationen, Traumata und Trauerfälle, deren optimistischer Titel ausgerechnet vom dogmatisch durchtriebenen SED-Chef Walter Ulbricht stammt.

Eine Anekdote verdeutlicht das grundlegende Dilemma signifikant. Heiner Kipphardt, in den 1950er Jahren Chefdramaturg am Deutschen Theater, erklärte seinerzeit der Staatsmacht, wie er Demokratie verstand: „Man muss wählen können zwischen einem guten Apfel und einem weniger guten; ich halte Heiner Müller und Peter Hacks für begabter als Gustav von Wangenheim und Hedda Zinner.“ Die Antwort der Partei: „Genosse Kipphardt, wir lassen uns durch die Demokratie nicht die Macht nehmen.“ – Peng!

Die Autoren (Mitarbeit: Renate-Louise Frost) beschreiben ihr Buch über allerhand Elend und allerhand Trotzdem-Glanz als „Wanderung über das Schlachtfeld DDR-Theaterlandschaft“, als „archäologische Expedition“. Dabei erweisen sich „fertige Urteile als Vorurteile, Kenntnisse als Unwissen, Fakten als Fake“.

Im Mittelpunkt stehen 44 Uraufführungen, die wegen ihrer kritischen Zuspitzung der Konflikte zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft besonders heftig umstritten waren. Dazu Gespräche u.a. mit Volker Braun, Christoph Hein, Irina Liebmann, Lothar Trolle, Jürgen Groß, Christian Martin sowie Maik Hamburger und Matthias Langhoff sowie Verlagsleitern und einem Direktor im Kombinat VEB Industrieanlagenbau der Metallurgie (4000 Beschäftigte). – Spannende Sache nicht nur für jene, die das aufgeregte DDR-Theaterdrama damals vor den Kulissen miterlebten, ohne hinter die Kulissen schauen zu können; sondern auch für die, die aus authentischen Quellen wissen wollen, was damals wirklich war.

Passend als Weihnachtsgeschenk aus dem Ventil Verlag Mainz; 328 Seiten, 30,00 Euro; bei Amazon ab 13,00 Euro.

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Theaterberlins Gruß zum Neuen Jahr

Das alte Fass ist ausgetrunken
Der Himmel steckt ein neues an,
Wie mancher ist vom Stuhl gesunken,
Der nun nicht mit uns trinken kann.
Doch ihr, die ihr wie wir, beim alten
Mit so viel Ehren ausgehalten,
Geschwind die alten Gläser leer
Und setzt euch zu den neuen her!

Georg Christoph Lichtenberg