Es gibt große Denker und Erfinder, deren Namen jeder kennt und deren Theorien einem in wissenschaftlichen Debatten und politischen Diskursen regelmäßig begegnen, ohne dass über deren Bedeutung, den Kontext und die Entstehungsgeschichte ihrer Werke sowie den genauen Wortlaut ihrer Thesen wirkliche Klarheit besteht. Ein Vertreter dieser Spezies ist der englische Ökonom Thomas Robert Malthus (1766–1834), der sein „Bevölkerungsgesetz“ erstmals 1798 veröffentlicht hat. Stießen seine Thesen anfangs noch auf heftigen Widerspruch und glaubte man im fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert noch an die Möglichkeit, sein „Gesetz“ überlisten zu können, so wurde angesichts der „Bevölkerungsexplosion“ in den Entwicklungsländern, der Debatte um die „Grenzen des Wachstums“ und des Sichtbarwerdens der Folgen des Klimawandels deutlich, dass Malthus nicht gänzlich falsch lag. Gleichwohl hat sich seine Hauptthese, wonach die Nahrungsmittelproduktion niemals mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten würde, nicht bestätigt. Sie stellt trotzdem einen Hinweis darauf dar, dass hier ein Spannungsverhältnis besteht und dass die Zunahme der Produktivität der Lebensmittelproduktion Grenzen hat, weshalb sie mit der ungebremsten Bevölkerungsentwicklung nicht mithalten könne. Für Malthus ist dies eine Erklärung dafür, dass es immer wieder zu Hungersnöten, Verelendung, Lebensmittelknappheit, Seuchen und Massensterben kommt.
In dem Bemühen, die unterschiedliche Dynamik der ökonomischen und der demographischen Entwicklung aufzuzeigen, griff Malthus auf die Mathematik zurück: Die Bevölkerung vermehrt sich danach in geometrischer Progression, die Produktivkraft des Bodens aber nur in arithmetischer. Da das, was für den Boden gilt, auch für andere Ressourcen zutrifft, deren Vorkommen endlich ist, lässt sich sein „Bevölkerungsgesetz“ auch auf andere Bereiche übertragen. Allerdings nur mit erheblichen Einschränkungen, denn einerseits stellt die ungebremste Bevölkerungsentwicklung keine unabänderliche Größe dar, andererseits verändert die technische Entwicklung die Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung. Zudem blendet Malthus aus, dass beide Prozesse, die demographische Entwicklung wie die technische, durch die gesellschaftlichen Verhältnisse determiniert sind, was das „Bevölkerungsgesetz“ zu einem Problem des Kapitalismus macht, nicht aber zu einem ewig gültigen Naturgesetz. Hier setzt dann auch die Kritik an, welche Malthus nicht nur die Verbreitung von Unwahrheiten und unbelehrbare Dogmatik vorwirft, sondern ihn auch zum politischen Reaktionär und bürgerlichen Apologeten stempelt. Für Karl Marx jedenfalls war er „stets der Inbegriff der Unwahrheit, der Verfälschung und Verzerrung der Wissenschaft“ (Fritz Behrens). Nichtsdestotrotz gilt er für einige Ökonomen bis heute als ein Klassiker der Politischen Ökonomie und sein Buch als „das einzige frische geistsprühende Werk des ganzen ‚klassischen‘ Schrifttums“ (Edgar Salin).
Allein schon diese zwei gegensätzlichen Wertungen der wissenschaftlichen Leistung des Autors fordern die unvoreingenommene Lektüre des Werkes geradezu heraus. Dank der vom Verlag Matthes & Seitz jetzt vorgelegten Neuausgabe der Schrift von 1798 ist dies nun auch möglich. Das Buch enthält neben der neu vorgenommenen Übersetzung des Originaltextes von Malthus eine fachkundige Einführung in das Werk von Georg Simmerl, ein umfangreiches Nachwort von Christian M. Barth und eine Nachbemerkung des Übersetzers, den Abdruck einer kritischen Textpassage von Friedrich Engels, eine Zeittafel, eine Bibliografie der Schriften des Autors sowie Texte und Wortmeldungen über ihn und sein „Bevölkerungsgesetz“ sowie Anmerkungen zur Erläuterung seiner Schrift. Es handelt sich hierbei um eine vorbildliche Edition eines klassischen Textes. In seiner Nachbemerkung vermerkt der Übersetzer, dass er im Interesse der Lesbarkeit des Textes darauf verzichtet hat, die Übersetzung sprachlich etwa dem Deutschen des ausgehenden 18. Jahrhunderts anzugleichen. Dadurch geht natürlich teilweise der „prätentiöse Stil“ von Malthus verloren. Aber nicht ganz, denn es wurde ebenso darauf verzichtet, die vom Autor verwendeten Fachtermini durch die heute üblichen Begriffe der modernen Volkswirtschaftslehre und Soziologie zu ersetzen.
Im Ganzen aber hat der Text durch die sprachliche Bearbeitung zweifellos an Klarheit gewonnen und ist daher auch für Leser mit geringer Fachkenntnis gut rezipierbar. Weniger leicht als die Hauptaussagen sind jedoch die konkreten Zeitbezüge heutzutage zu verstehen. Diese sind aber wichtig, denn hätte es sie nicht gegeben, so hätte das Werk niemals die Popularität erreicht, die es vor allem im 19. Jahrhundert besessen hat. Indem in der Einführung darauf hingewiesen wird, dass zum Beispiel in den 1790er Jahren die Weizenpreise in England stark angestiegen sind und durch die „Irische Rebellion“ infolge von Missernten und Hungerkatastrophen eine politisch brisante Situation entstanden war, fällt es dem Leser leichter, die Überlegungen, Vorschläge und Anregungen von Malthus historisch einzuordnen und zu verstehen. Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass Malthus sein Buch in einer Umbruchperiode veröffentlicht hat, an der Schwelle zu einer „neuen Zeit“, vor dem Hintergrund der Großen Industriellen Revolution, der Ablösung der Agrargesellschaft durch die Industriegesellschaft und einer drohenden Invasion Napoleons in Großbritannien. Das alles erklärt seine sachlich-trockene Sprache und seinen realistischen Umgang auch mit unangenehmen Fakten. Aber gerade dieser Stil entfaltet eine gewisse Suggestivkraft, wie ja auch sonst mitunter sachlich und unaufgeregt vorgetragene Argumente eher zu überzeugen vermögen als lautstark und übertrieben emotional geäußerte Ansichten.
Was aber vielleicht heute etwas stört, ist die Tatsache, dass Malthus sowohl Ökonom als auch Geistlicher war. Dies hat dazu geführt, dass er neben sachlichen Argumenten immer auch moralische Ansichten vorbringt und manche Passagen eher an eine Sonntagspredigt erinnern als an eine ökonomische Analyse oder einen philosophischen Essay. Aber, man muss ja nicht jede Passage akzeptieren, um sich über einen einflussreichen Denker und großen Realisten ein Bild zu machen und sich zu informieren.
Thomas Robert Malthus: Das Bevölkerungsgesetz, Matthes & Seitz, Berlin 2022, 272 Seiten, 18,00 Euro.
Schlagwörter: Bevölkerung, Malthus, Ulrich Busch, Wachstum, Wirtschaft