25. Jahrgang | Nummer 21 | 10. Oktober 2022

Der geopolitische Wandel in unserer Epoche

von Walter Schilling

Wer es unternimmt, den vor unseren Augen ablaufenden Prozess der Veränderung des internationalen Systems zu beurteilen, wird nicht umhinkönnen, den phänomenalen Aufstieg Chinas zur Weltmacht und das weltweite Engagement Russlands in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Der an Schärfe zunehmende chinesisch-amerikanische Konflikt um Taiwan und der seit dem 24. Februar 2022 geführte Krieg Russlands gegen die Ukraine um die politische Zuordnung dieses Landes unterstreicht dies einmal mehr.

Neue Korrelation der Kräfte im internationalen System

In der Tat stellen vor allem die wachsende Stärke und das Selbstbewusstsein Chinas eine noch vor kurzer Zeit für unmöglich gehaltene Herausforderung für die westlichen Länder dar. Diese Herausforderung drückt sich nicht nur in dem entschlossenen wirtschaftlichen Ausgreifen Chinas im globalen Maßstab aus. Auch im Bereich von Wissenschaft und Technologie einschließlich der Weltraumfahrt sowie auf dem Felde der militärisch unterlegten Außen- und Sicherheitspolitik begegnen wir einem Engagement, das alle unsere früheren Erfahrungen mit dem Verhalten dieses Staates in den Schatten stellt. Dabei nutzen die politischen Entscheidungsträger in Peking jede sich bietende Gelegenheit, ihren Einfluss selbst in weit entfernten Regionen der Welt zu vergrößern. Mit strategisch bedeutsamen wirtschaftlichen Projekten in Europa, im Nahen Osten, in Zentralasien, in Afrika, in Südamerika und in der asiatisch-pazifischen Region signalisiert China immer deutlicher, wer künftig die führende Weltmacht sein wird.

Abgesehen von der direkten, sehr professionell betriebenen und machtorientierten Teilhabe an der internationalen Politik demonstriert die politische Führung Chinas nicht nur ihre Ansprüche gegenüber anderen Staaten. Sie wagt es inzwischen auch mit sichtbarem Erfolg, früher geschlossene Verträge – wie zum Beispiel über den Status von Hongkong – de facto zu annullieren und ihre Interessen durchzusetzen. An der unterschiedlichen und schwachen Reaktion der westlichen Länder kann man ablesen, wie weit der Einfluss Chinas in eine von den USA angeführte Staatenwelt reicht, die immer noch den „Regime Change“ auf ihre Fahnen schreibt. Doch die Epoche westlicher Dominanz ist vorbei.

Abgesehen von der wirtschaftlichen und politischen Dynamik, die wir in China beobachten können, wird immer wieder deutlich, dass die chinesischen Entscheidungsträger auch die Deutung der Weltordnung längst nicht mehr den westlichen Ländern überlassen. Sie bauen dabei auf die in ihren Augen bewährten eigenen Vorstellungen, deren Ursprung in eine ferne Vergangenheit zurückreicht. Vor allem im Hinblick auf die Zielstrebigkeit, Effizienz und Handlungsfähigkeit Chinas ist zu erkennen, dass sich die politische Elite des Landes unter der Führung des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Xi Jinping unter anderem an den Lehren ihrer bedeutenden Denker Konfuzius (551 bis 479 vor Christus) und Sun Tzu (534 bis 453 vor Christus) orientiert und bemerkenswert rational handelt. Die Repräsentanten Chinas können sich zudem weitgehend darauf verlassen, dass die meisten Landsleute das Prinzip Leistung und die Verpflichtung auf das derzeitige Kontinuität verbürgende Herrschaftssystem akzeptieren, das nur jene Kritik zulässt, die das System nicht in Frage stellt, sondern eher dessen Macht noch fördert.

Ungeachtet der Tatsache, dass die Wirtschaftsmacht und die demographischen Kapazitäten Russlands sehr viel kleiner sind als etwa die Kapazitäten Chinas, spielt dieser autoritär regierte Nationalstaat in der gegenwärtigen Epoche eine bedeutende Rolle in der Welt. Die politische Führung dieses Landes hat zahlreiche gut entwickelte Machtressourcen, um ihre Handlungsfähigkeit zu garantieren. Mit ihren umfangreichen Streitkräften und der schon mehrfach demonstrierten Bereitschaft der politischen Führung, dieses Instrument konsequent einzusetzen, zeigt Russland seine Fähigkeit, militärische Macht auch in weit entfernte Regionen zu projizieren.

Abgesehen von den Streitkräften und dem großen Potential an nuklearen Waffen hat sich Russland zu einer bedeutenden Technologiemacht entwickelt, die ihren Anspruch auf eine eigenständige Rolle im internationalen System ernst nimmt und durchzusetzen sucht. Zudem zeigt sich die politische Führung Russlands in der Lage, auf der Grundlage der neuen Verfassung und der beständigen Verschärfung der Gesetze eine bemerkenswerte Stabilität zu erzeugen und eine Kontinuität zu verbürgen, von der man in westlichen Ländern nur träumen kann. Die vielfältigen Versuche einiger gesellschaftlicher Kräfte, die Russland nach westlichen Maßstäben umwandeln wollen, sind dank der rigorosen Vorgehensweise des Regimes zum Scheitern verurteilt. Darüber hinaus verfügt die politische Führung Russlands über ein gut ausgebildetes und fähiges Personal in allen bedeutsamen Beratungs- und Entscheidungsgremien und in der Diplomatie, deren Repräsentanten es verstehen, die vitalen Interessen des Landes in der internationalen Politik wirkungsvoll zu vertreten.

Angesichts der beeindruckenden Herausforderung durch das machtorientierte Vorgehen Chinas und Russlands finden wir in den westlichen Ländern wenig, was politisch ins Gewicht fallen könnte, um dieser Herausforderung wirksam zu begegnen. Vielmehr können wir in den meisten westlichen Ländern eine Führungsschicht beobachten, die mit der Realpolitik auf Kriegsfuß steht. Mit Blick auf die politische Handlungsfähigkeit fällt gegenwärtig auf, wie schwierig es für die westlichen Länder ist, eine längerfristig tragfähige gemeinsame Haltung gegenüber China und Russland zu erreichen. Auch die jüngsten Gipfeltreffen westlicher Staatschefs – EU, G7 und NATO im Juni 2022 – konnten dies nicht verdecken. Zwar führte der Krieg Russlands gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 zu größeren Anstrengungen der meisten westlichen Länder auf dem Gebiet der Verteidigung und zu umfangreichen Waffenlieferungen führender NATO-Staaten an die Ukraine, sowie zum Eintritt Schwedens und Finnlands in das westliche Bündnis. Die Eingliederung der zum G7-Gipfeltreffen eingeladenen Staaten Indien, Indonesien, Südafrika, Senegal und Argentinien gelang jedoch nicht. Die unterschiedlichen Interessen und Sichtweisen machen es zudem außerordentlich schwer, über die tatsächlich vorhandenen politischen und wirtschaftlichen Probleme innerhalb der westlichen Länder, erst recht aber zwischen den verschiedenen Ländern sachlich zu diskutieren und angemessene Entscheidungen zu treffen. Selbst die führenden westlichen Länder kennzeichnet eine tiefgreifende Fragmentierung der Gesellschaften, die es kaum noch erlaubt, die in der internationalen Politik notwendige Entwicklung von Machtressourcen und deren kluge Anwendung ins Auge zu fassen. Die USA zeigen sich – ähnlich wie die Staaten der Europäischen Union – nicht einmal in der Lage, ihre Außengrenzen gegen illegale Migranten zu schützen. Und die Europäer verzetteln sich in endlosen, völlig unnötigen und erbittert geführten Auseinandersetzungen, wie etwa beim machtorientierten, autoritären Vorgehen zahlreicher Repräsentanten wichtiger EU-Institutionen und mancher europäischer Regierungen gegenüber Polen und Ungarn, oder sie ziehen sich neue gefährliche Probleme herein, wie etwa durch eine absurde Migrationspolitik, die ein enormes Konfliktpotential enthält und die Gesellschaften immer stärker spaltet. Einen klaren Trend in diese Richtung kann man insbesondere in Deutschland beobachten. Darüber hinaus versuchen einige politische Parteien in den europäischen Ländern gemeinsam mit spezifischen Nichtregierungsorganisationen und unterstützt von zahlreichen Vertretern der Medien eine radikale Veränderung unserer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen zu erzwingen.

Trends im internationalen System

Vor dem Hintergrund der erkennbaren künftigen politischen Entwicklung im internationalen System werden wir damit rechnen müssen, dass China sehr bald die dominante Macht sein wird. Auch Russland wird vor allem dank der Beständigkeit und Rigorosität seiner politischen Führung und seiner vielfältigen Machtressourcen eine bedeutsame Rolle in der internationalen Politik einnehmen. Dabei ist der mit der vereinbarten und bereits praktizierten strategischen Partnerschaft beider Länder verbundene geopolitische Paradigmenwechsel in den westlichen Staatskanzleien noch nicht hinreichend berücksichtigt worden. Die westlichen Länder, einschließlich der Weltmacht USA, werden im vor uns liegenden Jahrzehnt – wahrscheinlich sogar für längere Zeit – angesichts ihrer inneren Schwäche und der zunehmenden Zerrissenheit ihrer Gesellschaften weiter an Einfluss im internationalen System verlieren. Zudem wird die Abhängigkeit westlicher Länder im wirtschaftlichen und energiepolitischen Bereich von auswärtigen Mächten sowie der im Zuge des Krieges um die Zuordnung der Ukraine ausgelösten schweren Rezession der Wirtschaft und den damit verbundenen gesellschaftlichen Konflikten es kaum noch zulassen, die eigenen Interessen zu wahren. Eine hinreichend tiefgehende gemeinsame Strategie der westlichen Länder gegenüber China und Russland gibt es nicht und wird auch künftig kaum erreicht werden können. Die tatsächlich anwendbaren Machtressourcen finden wir eher in der Hand der chinesischen und russischen Entscheidungsträger. Diese Entscheidungsträger werden immer deutlicher ihre Bereitschaft zeigen, die ihnen zur Verfügung stehenden vielfältigen Machtressourcen konsequent und professionell einzusetzen.

Das erfolgreiche weltweite Engagement, die beständige Verstärkung der Beziehungen und Einflusskanäle in vielen Staaten der Welt, vor allem aber auch das selbstbewusste militärische Vorgehen Chinas in der asiatisch-pazifischen Region weist darauf hin, wie entschlossen man in Peking die eigenen machtpolitischen Interessen verfolgt. So wird die Wiedereingliederung des von 23 Millionen Chinesen bewohnten Inselstaates Taiwan in China kommen, wenn die politische Führung in Peking erkennt, dass ein derartiger Schritt weitgehend risikolos möglich ist. Dabei kann man in Peking auf den Alleinvertretungsanspruch pochen, der China von den Vereinten Nationen im Jahre 1971 zuerkannt worden ist. Und mit Blick auf das Ringen um die politische Zuordnung der Ukraine wird Russland seinen Kräfteeinsatz angesichts der militärischen Unterstützung der Ukraine durch die Staaten der NATO und der Europäischen Union deutlich erhöhen, um das Land unter seine Kontrolle zu bringen. Dagegen werden die Versuche führender westlicher Länder, mit Hilfe verdeckter Operationen spezieller Dienste sowie der Unterstützung von manchen Nichtregierungsorganisationen und der Bildung von „Netzwerken“ auf einen „Regime Change“ in China und Russland hinzuarbeiten, dank der Aufmerksamkeit und der professionellen Gegenwehr dieser beiden Staaten scheitern. China und Russland haben mit ihren zielstrebigen weltweit unternommenen machtpolitischen Vorgehensweisen gute Chancen, auch in Zukunft erfolgreich zu sein.

Mit Blick auf die wahrscheinliche Entwicklung im internationalen System wird sich der Entschluss Chinas und Russlands zu dem historischen Paradigmenwechsel und der damit verbundenen vielseitigen Partnerschaft als vorteilhaft erweisen. Dies zeigt sich nicht nur in den aktuellen Konflikten um die politische Zuordnung der Ukraine einerseits und um die Zugehörigkeit des Inselstaates Taiwan andererseits. Gemeinsam dürften diese beiden Mächte zudem in der Lage sein, mit vielen anderen Staaten eine „Counter-Alliance“ zu bilden und den USA mit deren Bündnispartnern künftig die Möglichkeit nehmen können, die internationale Ordnung zu bestimmen. Die Partnerschaft im Rahmen der von China dominierten und an Mitgliedern zunehmenden „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ (SOZ) wird in diesem Kontext eine zunehmende Rolle spielen. Sie ist inzwischen so beständig und attraktiv geworden, dass selbst der NATO-Staat Türkei seinen Willen zum Beitritt bekundet hat und mehrere Länder vor allem im Nahen Osten, in Afrika, in Asien und selbst in Südamerika der neuen „Allianz“ zuneigen.

Dr. phil. Walter Schilling ist ehemaliger bundesdeutscher Generalstabsoffizier und Militärattaché in Moskau.