25. Jahrgang | Nummer 20 | 26. September 2022

Gegen Putins Annexionswahn

von Holger Politt

Hartnäckig hält sich der Vorwurf, Rosa Luxemburg habe in der Nationalitätenfrage geirrt. Als schlagender Beweis für diese Behauptung wird stets die polnische Frage angeführt, die sie falsch beantwortet habe. Ohne tiefer darauf einzugehen, sei an dieser Stelle dennoch gesagt, dass der polnische Historiker Feliks Tych frühzeitig die Sache richtigzustellen suchte: Rosa Luxemburg ist nicht gegen die polnische Unabhängigkeit gewesen, sie hat sie vielmehr ausgeschlossen, was unter den bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs herrschenden Bedingungen in jenem Teil Europas auch nachvollziehbar war. Anders gesagt: Der Traum von nationaler und staatlicher Unabhängigkeit Polens war bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich vor allem visionär, die verschlungenen Wege dorthin konnten nur bedingt oder gar nicht aufgezeigt werden. Zumeist waren solche Träume ein schwacher Nachklang der polnischen Aufstandstradition im 19. Jahrhundert, auch wurde überaus viel Hoffnung gesetzt auf den Sozialismus am Horizont der europäischen Arbeiterbewegung. Wer sich auf die sachliche Analyse realpolitischer Machtkonstellationen einließ, vertagte diese Frage indes, so auch Rosa Luxemburg – sie nun in die Zeit eines kommenden Aufbruchs in die sozialistische Gesellschaft, die aber die Lösung der polnischen Frage nicht mehr als Voraussetzung hatte. 

Anders gesagt: Rosa Luxemburg hatte fest auf einen Weg vertraut, die sozialistische Perspektive anzustoßen, ohne bestehende Grenzen infrage zu stellen oder gewaltsam anzutasten. Strittige Grenzfragen oder Fälle nationaler Unterdrückung mussten hinter diesem Bruch mit der bestehenden Gesellschaft gelöst werden, auf einer ganz anderen Grundlage, in der vor allem volle politische Freiheit und damit eine freie Willensbildung auf allen Seiten durchgesetzt ist. Nie wäre Rosa Luxemburg auf die aberwitzige Idee gekommen, einem Staat, der über dreißig Jahre weithin anerkannt ist, der friedlich existiert und keinerlei Gebietsforderungen an die Nachbarn stellt, plötzlich – und aus was für verwinkelten Gründen auch immer – das Existenzrecht abzusprechen, um es mit militärischen Gewaltmitteln anzugreifen.

Der ganze Reichtum in der Behandlung der Nationalitätenfrage bei Rosa Luxemburg tritt zutage, sobald die heute sperrig wirkende polnische Frage beiseitegelassen wird. Innerhalb des demokratisch ausgerichteten Zentralstaates mit umfassender politischer Freiheit kommen den konsequent von unten nach oben ausgerichteten Körperschaften der Selbstverwaltung in den Verwaltungsgliederungen auf dem Staatsgebiet ein entscheidendes Gewicht zu, sobald es um die Beteiligung der Bevölkerung am demokratischen Prozess sowie vor allem um die angemessene Berücksichtigung der jeweiligen Bevölkerungszusammensetzung geht. In der Schrift „Nationalitätenfrage und Autonomie“ (1908/09) hat sie diesen Zusammenhang ausführlich und überaus gelungen dargelegt. Es ist kein Zufall, dass sie dabei ein besonderes Augenmerk auf die Frage der den nationalen Minderheiten zukommenden Rechte und auf das Problem des Separatismus richtete. Sie trat entschieden für ein robustes und verbrieftes Minderheitenrecht ein, wie es noch heute höchsten Ansprüchen genügen würde. Zugleich wies sie militanten Separatismus, der sich auf bestehende nationale Unterdrückung zu berufen sucht, in die Grenzen – erst recht natürlich, wenn für die Durchsetzung der Ziele Waffengewalt genutzt oder aber billigend in Kauf genommen wird. Wer die Herausbildung abtrünniger Gebiete in anderen Ländern provoziert und schließlich als Mittel des militärischen Angriffs gegen die Nachbarländer missbraucht, findet in den Überlegungen Rosa Luxemburgs keine Gründe, auf die er sich stützen könnte.

Die Rechte nationaler Minderheiten waren für Rosa Luxemburg ein höchstes Gut. Sie selbst wurde von preußischen Behörden verfolgt, weil sie sich für einen umfassenden Schutz der polnischen Sprache in jenen Gebieten eingesetzt hatte, die zu einem erheblichen oder mehrheitlichen Teil von polnischer Bevölkerung bewohnt waren. Der Gebrauch der Muttersprache im öffentlichen Leben hat in den Körperschaften der Selbstverwaltung überall dort gesetzlich verankert zu sein, wo eine entsprechende Bevölkerungszusammensetzung es erforderlich macht. Rosa Luxemburg wählte als treffliche Beispiele nicht ohne Grund den Kaukasus und das historische Litauen, das nicht zu verwechseln ist mit dem heutigen national geprägten Litauen, weil es damals in der Bevölkerungszusammensetzung einem wahren Flickenteppich glich. Wer heute durch solche Orte geht, in denen auf der Straße mehr als nur die eine Muttersprache zu hören ist, sollte den Blick richten auf die Straßenschilder. Sind sie einsprachig, können sie ein Indiz sein für nicht ein- oder durchgehaltene Minderheitenrechte. Der Anspruch darauf, diese in jeder Hinsicht zu kritisierende Situation zu ändern, bleibt aber in Rosa Luxemburgs Verständnis eine der wesentlichen Aufgaben der selbstverwalteten Gebietskörperschaften, also von demokratischen, regelbasierten Lösungen. Hierbei mit militärischen oder anderen Gewaltmitteln einzugreifen, stieß auf entschiedene Ablehnung, weil um den explosiven Zündstoff gewusst wurde, der in Nationalitätenkonflikten nun einmal verborgen liegt.

Die eindeutige Haltung Rosa Luxemburgs in der Frage territorialer Separation und Loslösung, hat obendrein sehr viel zu tun mit der Kriegsgefahr, die durch erzwungene Grenzänderungen gegen den Willen der anderen Seite unermesslich gesteigert wird. Den bösen Trick also, mit bloßer und einseitiger Unterschrift dem Nachbarland einfach Gebiete streitig zu machen und den Grenzverlauf willkürlich zu ändern, hätte sie als brutale Androhung von Krieg und Gewalt gegeißelt. Alle Gründe, die angeführt werden, um das militärische Mittel mit dem heiligen Zweck zu beschönigen, wären entschieden zurückgewiesen worden.