25. Jahrgang | Nummer 19 | 12. September 2022

Im Nebel der Mentholzigarette

von Klaus-Dieter Felsmann

Ick wundere mir über gar nischt mehr“ – Komme ich mit Freund Matti vom Stammtisch aus unserem Gasthof, so könnte man momentan alle Gespräche, sowohl die unsrigen als auch die an den anderen Tischen, mit dieser Couplet-Zeile von Otto Reutter zusammenfassen. Das Treiben unserer aktuellen Politikelite samt der sie antreibenden Medienblase generiert mehr oder weniger allgemeine Ratlosigkeit. Wohin führt uns die ausgerufene Zeitenwende? Alle Anzeichen deuten auf nichts Gutes hin.

Unsere Versammlungsstätte trägt den schönen Namen „Zur Ostbahn“. Eine Referenz an die unweit vorbeiführende Stammstrecke eines ehemals weitläufigen Eisenbahnsystems, das seit 1867 Berlin mit Königsberg und weiterführend mit dem Russischen Reich verband. Nach dem II. Weltkrieg hatte dieses Eisenbahnsystem seine Bedeutung verloren. Allerdings blieb immer ein gewisser Bedarf für den Regionalverkehr. Seit 1990, mit dem Anschluss nach Polen, werden zunehmend Fahrgastzahlen erreicht, die inzwischen die Platzkapazität der Züge oft übersteigen. Ein notwendiger und von der örtlichen Bevölkerung vehement gewünschter Ausbau der Bahnlinie wurde allerdings nie ernsthaft betrieben. Und jetzt?

Amerikaner und Polen haben den Transportweg aus den gleichen Motiven für sich entdeckt, die schon um 1840 das preußische Militär für das Projekt erwärmten. Man kann über die Strecke so schön Kanonen an die russische Grenze bringen. Was diverse Bürgerinitiativen nicht geschafft haben, das wird unter kriegerischen Gesichtspunkten plötzlich möglich. Zweigleisig soll es werden und sogar eine Elektrifizierung ist vorgesehen. Leider wird es einen kleinen Haken geben. Auf der modernisierten Bahnstrecke stellen die momentan sehr dichten regionalen Haltepunkte in den Augen der Planer ein Verkehrshindernis dar. Ergo werden wir wieder mehr Auto fahren müssen, um an die verbleibenden Zentralhaltestellen zu kommen. Verstehe man angesichts dessen die Sinnhaftigkeit grüner Verkehrspolitik.

Gelegentlich findet sich am Kneipentresen ein Mann ein, an dessen Hut einige Schwanzfedern eines vom Windrad erschlagenen Rotmilans stecken. Er stärkt sich dann auf einer seiner täglichen Wanderungen durch die Region mit einem Bier. Dabei erfahren wir von all den Naturfreveln, denen er mehr und mehr begegnet. Müllhaufen an den Waldwegen, gerodete Hecken, tote Ackerböden durch jahrelange Maismonokultur, die nunmehr zunehmend durch monströse Solarflächen gänzlich aus der landwirtschaftlichen Verwertung herausgenommen werden. Andere schauen resigniert weg, ihn macht das menschenverursachte Fischsterben in der Oder seelisch krank. Es sind zutiefst christliche Überzeugungen, die den Wanderer an all den zivilisatorischen Sünden verzweifeln lassen.

Seit zwei Wochen steht er nun an den Markttagen vor unserem Landratsamt. Für jeweils eine Stunde hält er dort ein Plakat hoch, mit dem er gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und gegen uns selbst schadende Sanktionen protestiert. Sein Motiv ist unmittelbare Angst vor den möglichen Folgen, die es haben kann, wenn man einer Atommacht jeglichen Dialog verweigert. Mit seiner Vision eines nuklearen GAUs bleibt der Kassandrarufer ziemlich allein. Zu unvorstellbar erscheinen seine diesbezüglichen Mahnungen.

Doch beim Thema Sanktionen, da überschlagen sich die Stimmen. Jeder hat ein Beispiel, welche blödsinnigen Folgen das in seinem unmittelbaren Arbeits- und Lebensumfeld hat. Auch hier bestimmt eher eine diffuse Angst das Reden, weniger das Wissen um die tatsächlichen Dimensionen. Der örtliche Propangashändler verweist etwa darauf, dass sein Geschäft rein gar nichts mit den globalen Gaslieferungen zu tun hat. Er handelt mit einem Abfallprodukt aus der Erdölraffinerie in Schwedt. Dort hätten die Russen seit Jahrzehnten für eine verlässliche Rohstoffversorgung gesorgt. Meinen Einwand, dass sich das bald ändern kann, weil man im Rahmen der EU den Russen nicht mehr das Öl abnehmen wird, fand er absurd. Der Mann ist offenbar ein Meister des Verdrängens. Jedenfalls findet er, dass das gar nicht ginge. Dann sei nicht nur in Schwedt alles tot und es gäbe einen Volksaufstand.

Wenn er genauer Zeitung lesen würde, dann hätte er vielleicht eine andere Vorstellung von dem, was im Moment alles so geht. Regelmäßig wird in den Lokalblättern aufgezählt, wie Fleischer, Bäcker, Bierbrauer und andere unter den steigenden Energiekosten leiden. Bisherige Selbstverständlichkeiten stehen in Frage. Doch das Phänomen als solches hinterfragt man in den Publikumsmedien kaum in irgendeiner Weise kritisch. Kolportiert wird, Putin sei schuld, und wir müssten uns alle auf schwierige Zeiten einrichten. Es werden merkwürdige Tipps verbreitet, wie in einer Anzeige des Energieversorgers EWE durch dessen Mitarbeiterin Josephin: „Ich habe meine Duschroutine geändert“. Waschlappen-Kretschmann, ick hör dir trapsen.

Mein Freund Matti wirft ein, das erinnere ihn an das Ding mit der Mentholzigarette. „Wie, Helmut Schmidt?“, ruft der Kneipenchor. Nein, Matti meint jene Meldung auf dem Höhepunkt der Ausreisewelle aus der DDR im Sommer 1989, wo, losgelöst von jeglicher Realität, medial ein reumütiger Koch vorgeführt wurde, der nach seiner Rückkehr aus westlichen Fängen erklärte, er sei durch eine Substanz in einer solchen Zigarette auf Abwege verleitet worden. Es ist schlimm, wenn derartige Vergleiche aus grauer Vorzeit aus der Erinnerung auftauchen. Doch es ist nachvollziehbar, wenn man etwa sieht, dass nicht nur bei der hiesigen Lokalzeitung zwischen redaktioneller Kommentierung und Leserbriefmeinung zwei völlig unterschiedliche Weltsichten auftauchen. Neben der irrlichternden Außenministerin gilt offiziell Wirtschaftsminister Habeck als aktuell beliebtester Politiker.

In der Märkischen Oderzeitung schreibt am 3. September demgegenüber ein Leser: „Herr Habeck sollte einfach zurücktreten, ebenso seine Sinnesgenossen von den Grünen, sie haben alle versagt“. Es ist nicht zuerst die Frage, wie das zusammenpasst und auf welcher Seite vielleicht eine getrübte Wirklichkeitswahrnehmung vorliegt, sondern das Problem ist, dass in diesem Spannungsfeld der gesellschaftliche Dialog mehr und mehr verloren geht. Schlägt der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki vor, zur Lösung der Energiekrise über die Öffnung von Nord Stream 2 nachzudenken, dann kontert die genannte Zeitung einträglich mit dem medialen Hauptstrom, das freue nur die AfD; Punkt. Ich weiß nicht, ob in meiner Kneipe ein AfD-Anhänger sitzt – Parteipolitik spielt hier keine Rolle – doch man stimmt unisono Kubicki zu. Da muss kein „Putin-Troll“ agitieren, das entspricht einem allgemeinen Grundgefühl der ansonsten doch recht heterogenen Runde.

Das eigentliche Problem für unsere Gesellschaft besteht darin, dass solche Gefühle nicht nur nicht ernst genommen werden, sondern dass man sie stets als Folge irgendwelcher extremistischer Einflüsterung sieht. Ende Juli 2022 fand im havelländischen Friesack zum vierten Mal das Festival „Pax Terra Musica“ statt. Neben diversen Konzerten, Yogaangeboten und temporären Ausstellungen gab es für „Engagierte und Aktive“ auch Gesprächsrunden, bei denen man „gesellschaftlichen und internationalen Konflikten auf den Grund gehen“ wollte. Dabei sollte auch das westliche Narrativ zum Ukraine-Krieg hinterfragt werden. Das Brandenburger Innenministerium sah allein in diesem Umstand bereits Anlass genug, die sich ausdrücklich als Friedensfestival verstehende Veranstaltung intensiv zu beobachten. Aus dem Anliegen, dass man sich beim Thema um einen differenzierenden Blick bemühen wolle, wurde eine potenzielle Staatsgefährdung abgeleitet. Und die Potsdamer Neuesten Nachrichten sekundierten geflissentlich, hier würden „Querdenker, Impfgegner und Putin-Anhänger“ angezogen. Das Ministerium selbst hatte mit „Reichsbürgern“ und „Glorifizierern der DDR“ (sic!) noch weitere potenzielle Gefährder parat, die das eher links orientierte Festival kapern könnten. Auf diese Weise wird nicht nur hier ein Popanz aufgebaut, mit dessen Hilfe jeglicher Ansatz für einen toleranten Diskurs erstickt wird. In der Folge verschwinden zwar zunächst tendenziell Fragen und Zweifel aus einer weiter reichenden öffentlichen Wahrnehmung.

Doch meine Kneipenrunde zeigt, auch wenn man das Gegenteil herbeireden will, das Feuer brennt dennoch und man wird sehen, wie lange der Kessel auf dem Herd dem Dampfdruck standhält. Das kann dann für alle, die wirklich demokratische Strukturen zu schätzen wissen, ein böses Erwachen geben.