25. Jahrgang | Nummer 18 | 29. August 2022

Angekommen

von Erhard Crome

Am 17. Juni 1953 waren die in Berlin verbliebenen Mitglieder des SED-Politbüros am späten Vormittag in die Sowjetische Militäradministration nach Berlin-Karlshorst einbestellt worden. Wladimir Semjonow, Hoher Kommissar der UdSSR in Deutschland, kam aus seinem Beratungszimmer, in dem ununterbrochen verschiedene Lagebesprechungen stattfanden, in das Zimmer, in dem die deutschen Genossen warteten, und sagte mit ironischem Unterton: „RIAS gibt durch, dass es in der DDR eine Regierung schon nicht mehr gibt. Na, fast stimmt es doch.“ Mittags kam die Mitteilung, dass Moskau die Verhängung des Ausnahmezustandes ab 13 Uhr angeordnet hatte. Das konnte gemäß Alliierter Festlegungen jede der vier Besatzungsmächte für ihre Besatzungszone tun, ohne die anderen zu fragen.

Bald darauf traf Marschall Sokolowski ein, Generalstabschef der Sowjetarmee und stellvertretender Verteidigungsminister der UdSSR. Wie Rudolf Herrnstadt berichtete, damals Mitglied der SED-Führung und zusammen mit Wilhelm Zaisser, zu jener Zeit Chef der Staatssicherheit, von Walter Ulbricht bald darauf aller Ämter enthoben und politisch für den 17. Juni maßgeblich verantwortlich gemacht, äußerte Sokolowski als erstes Erstaunen: „Wie konnte diese Sache passieren, das verstehe ich nicht. Solche Dinge stellt man doch nicht von einem Tag auf den anderen auf die Beine. Dazu ist doch eine Organisation erforderlich.“ Und weiter, an Zaisser gewandt: „Genosse Zaisser, wieso hatte Ihr Apparat keine Informationen? Jetzt stellt sich doch heraus, dass ein ganzes feindliches Netz auf dem Territorium der DDR arbeitet.“

Gegenstand der Betrachtung ist jetzt nicht, welche „feindlichen Netze“ in jener Hochphase des Kalten Krieges tatsächlich bestanden, der BRD und der westlichen Geheimdienste in der DDR sowie der DDR und des sowjetischen Geheimdienstes in der BRD. Bemerkenswert hier ist, dass man sich den Volksprotest, die Demonstrationen und den öffentlich bekundeten Unwillen weiter Teile der Bevölkerung nur als Ausdruck feindlicher Spionage- und Sabotagetätigkeit vorstellen konnte – nicht als Folge politischer Fehlentscheidungen und damit politisch zu verantwortender wirtschaftlicher und sozialer Verwerfungen, Krisen und lebensweltlicher Verschlechterungen.

Am 17. August 2022 wurde gemeldet, der bundesdeutsche Verfassungsschutz habe mitgeteilt, das Amt rechne mit verstärkten Propaganda- und Spionageaktivitäten Russlands. Das Land nutze „insbesondere Fragen der Energieversorgung Europas als hybriden Hebel“. Was „hybride Hebel“ sein sollen, erschließt sich dem normalen, nicht amtszugehörigen Betrachter nicht. In der Biologie ist Hybrid eine Kreuzung, etwa zwischen Pferdestute und Esel zum Maultier, oder in der Autoindustrie ein Fahrzeug mit Benzin- und Elektromotor. Ein Hybrid im Geheimdienst könnte also eine Kreuzung aus 007 und Esel sein, man weiß es nicht. Aber weiter das Amt: Mit gezielten „Falschinformationen, etwa zu Gasknappheit und Preissteigerungen“ werde versucht, in Deutschland „Angst vor einer möglicherweise existenzbedrohenden Energie- und Lebensmittelknappheit zu schüren“.

Nun braucht der deutsche Verbraucher mit geringem Monatseinkommen aber nicht den Russen, um in sein Portemonnaie zu schauen. So wie der Berliner Bauarbeiter 1953 nicht den RIAS brauchte, um die Folgen der Normerhöhungen für sein Familieneinkommen zu verstehen. Die Leute haben dieses Jahr schon weniger Spargel gekauft, weil sie den für Luxus halten, ebenso wie frische Erdbeeren. Mit der Folge, dass die Spargel- und Erdbeerbauern in Brandenburg und anderswo Teile der Ernte nicht eingebracht, sondern untergepflügt haben. Mit entsprechenden finanziellen Folgen für sich und die sonst üblichen Saisonkräfte. Viele reduzieren jetzt schon den Stromverbrauch, duschen seltener, fahren weniger mit dem Auto. Der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, Jahrgang 1948, empfiehlt den feuchten Waschlappen, damit hat ihn einst schon seine Mutter eingeseift. Die Katastrophe, die in vielen Familienbudgets eintritt, wenn im Herbst die Gaspreiserhöhung und die „Gasumlage“ kommen, ist auf Heller und Pfennig ausrechenbar. Die Lufthansa wurde in Corona-Zeiten mit über 5,8 Milliarden Euro von Staats wegen gerettet; der weltgrößte Touristikkonzern TUI erhielt über 1,2 Milliarden, FTI Touristik 613 Millionen Euro. Insgesamt wurden über den „Wirtschaftsstabilisierungsfonds“ der Bundesregierung von März 2020 bis Ende Juni 2022 9.645 Millionen Euro an deutsche Firmen ausgereicht. Sie galten als „systemrelevant“. Für die Bewahrung der Gasimporteure vor der Zahlungsunfähigkeit dagegen werden die Bürger, vor allem die Kleinverdiener zur Kasse gebeten. Der Ossi reibt sich die Augen: Der Spätkapitalismus fault doch so, wie Lenin es beschrieben hatte, was aber die übergroße Mehrheit 1990, als sie Kohl wählte, nicht glauben wollte.

Nun hat Sören Pellmann aus Leipzig zu „Montagsdemonstrationen“ gegen die exorbitant steigenden Energiepreise aufgerufen. Pellmann ist derjenige, der durch seinen unermüdlichen politischen Einsatz in Leipzig das dritte Direktmandat für die Linkspartei errungen hat, weshalb Die Linke heute überhaupt mehr als zwei Abgeordnete im Deutschen Bundestag hat – sie erhielt angesichts ihres desolaten politischen Zustands 2021 bundesweit nur noch 4,9 Prozent der Zweitstimmen und wäre ansonsten als Fraktion wieder aus dem Parlament verschwunden. Der Parteivorstand folgt Pellmann.

Sofort meldeten sich die „üblichen Verdächtigen“: Linke dürften nicht mit Rechten zusammen demonstrieren. Nun ist, wenn die Linke zur Demonstration aufruft, kaum eine durchgreifende Gesichtskontrolle möglich, wer denn nun als Nicht-Linker aussortiert gehört. Von allen Revolutionen, auch den Umbrüchen von 1989, weiß man, die Sache wird für die Regierenden dann brenzlig, wenn über die üblichen Aktivisten hinaus die Mehrheit der Bevölkerung, die sonst als schweigende Mehrheit erscheint, den Protest mitträgt. So reden SPD-Politiker präventiv schon mal von „billigem Populismus“. Bei den Protesten würden auch Leute aufmarschieren, die zuvor gegen die Aufnahme von Flüchtlingen waren, gegen Corona-Impfungen auftraten oder „Verschwörungserzählungen“ befeuern. Ist die staatlich organisierte Steigerung der Gaspreise eigentlich „Verschwörungstheorie“ oder reales Komplott gegen die eigene Bevölkerung?

Erneut wird das Argument reaktiviert, wer gegen die heutigen Missstände revoltiere, dürfe sich nicht auf die „Montagsdemonstrationen“ von 1989 berufen, die hätten sich ja gegen den „Unrechtsstaat“ gerichtet, jetzt aber hätten wir „die Demokratie“. Nun wissen wir spätestens mit dem Leipziger Forschungsprojekt zum „umstrittenen Erbe von 1989“ (Das Blättchen, Nr. 16/2022), dass bei allen divergierenden Erklärungen der positive Bezug auf ’89 als „charismatisches“ Ereignis entscheidend ist, „auf das die Ostdeutschen stolz sein konnten, als Erfahrung der überwundenen Angst und von Selbstermächtigung, als kollektives Erleben der Macht, die sich von der Straße her entfalten konnte; und nicht zuletzt als Erfahrung, dass ein – mehrfach geschwächtes – Regime auf diese Weise zu Fall gebracht werden konnte“. Die real existierende BRD von heute wird so rasch nicht zu Fall gebracht werden. Wie geschwächt sie inzwischen ist, hängt nicht von Putin, sondern von den inneren Verhältnissen ab.

Der Verfassungsschutz von heute will besser vorbereitet sein als Zaisser 1953. Er hat eine „Sonderauswertung“ eingerichtet, in der vor allem „Rechts- und Linksextremisten“ sowie „Verfassungsfeinde“ beobachtet werden. Der Verfassungsschutz ist dort angekommen, wo Marschall Sokolowski 1953 schon war. Besonders sucht er nach russischen Agenten. Am meisten waren bisher allerdings Minister Habeck (Grüne) und der Vorsteher der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, als Verbreiter von Verunsicherung, Angst und Zukunftsfurcht in Erscheinung getreten. Sind sie russische Einflussagenten?