25. Jahrgang | Nummer 18 | 29. August 2022

Ukrainische Umstände

von Bernhard Romeike

Der Zar in Moskau hatte irgendwie eine Sommerpause des Krieges angekündigt. Der Schauspieler in Kiew will die Rückeroberung der Krim beschwören. Dortselbst wird schon mal der kommende Sieg verkündet. Der britische Geheimdienst kolportiert das in die westlichen Medien. Wenn er im Zweiten Weltkrieg so informiert gewesen wäre wie heute über die Ukraine, hätte Nazideutschland den Krieg gewonnen. Das Damoklesschwert der russischen Atombomben auf die Ukraine wird ausgeblendet. Sechs Monate nach Kriegsbeginn weiß eigentlich niemand nichts Genaues.

Ein australischer Exgeneral namens Mick Ryan nannte gegenüber CNN fünf Punkte, weshalb es „Aussichten auf einen ukrainischen Sieg“ gäbe. Vorsorglich räumte er ein (der Experte will sich nicht selbst ent-expertieren): „Den Ausgang eines Krieges vorherzusagen ist unmöglich.“ Dennoch die fünf Punkte: (1) „Die politische Unterstützung des Westens.“ (2) Die wirtschaftliche Unterstützung des Westens. Nur so sei „es dem Land überhaupt möglich, […] den teuren Krieg zu finanzieren.“ (3) Die militärische Hilfe des Westens, insbesondere die „am höchsten entwickelten Präzisionswaffen“ und die Trainingsprogramme für ukrainische Soldaten. (4) Präsident Selenskyj, der Gesicht des Widerstandes gegen Russland sei und auch international großen Einfluss habe. (5) Am Ende aber müsse „die Ukraine auf dem Schlachtfeld gewinnen“. Jedoch seien – so eine weitere Rückversicherung – „offensive Kampagnen viel schwieriger als defensive. Und es gibt keine Erfolgsgarantie.“

Zusammenfassend: Es ist in der Tat ein Stellvertreterkrieg. Und die Entscheidungen über seinen Fortgang werden letztlich in Washington, Brüssel, Berlin und Warschau getroffen. Die „Unterstützungen“ aber sind keineswegs auf Dauer gestellt. In der Republikanischen Partei der USA deuteten sich schon Kursveränderungen in Sachen Ukraine-Finanzierung für die Zeit nach einem Wahlsieg bei den Zwischenwahlen im November an. Anfang August schrieb der Journalist Thomas Friedman in der New York Times: „Im privaten Gespräch sind US-Beamte viel besorgter über die Führung der Ukraine, als sie zugeben. Zwischen dem Weißen Haus und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj herrscht tiefes Misstrauen – erheblich mehr als bisher berichtet.“ Vor allem angesichts der Korruption und der Waffenschleuser-Tätigkeiten. Die Biden-Regierung wolle jedoch in Kiew nicht so genau unter die Decke schauen, „aus Angst vor Korruption oder Skandalen, die wir entdecken könnten – nachdem wir dort so viel investiert haben“. Der „USA-Experte“ Dominik Tolksdorf von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik meinte dazu: „Die Biden-Regierung ist sich bewusst, dass jeglicher öffentliche Zweifel an der Ukraine Konsequenzen hätte.“ Und „Nutznießer wäre Putin“. Hier folgt der deutsche Experte der derzeitigen deutschen Staatsräson, gemäß der Regel: „Mitgegangen, mitgehangen“.

Die Washington Post kritisierte, Selenskyj konzentriere die gesamte Wiederaufbauhilfe in seiner Hand, „um so künftige politische Rivalen zu schwächen“. Auch die Entlassungen im Militär- und Sicherheitsapparat würden in diese Richtung weisen. National Review, konservative Zweiwochenschrift aus New York, sieht ein Sündenbock-Szenario: die Biden-Administration distanziere sich unauffällig von Selenskyj und baue eine neue Erzählung auf, nach dem Motto: „Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, um der Ukraine zu helfen sich zu verteidigen, aber am Ende waren sie zu inkompetent, zu korrupt und zu sehr von internen Machtkämpfen geprägt.“ Einem solchen Programm sind die USA nach ihrem Scheitern in Irak und Afghanistan auch schon gefolgt.

Die internationalen Rating-Agenturen S&P und Fitch haben am 12. August die Fremdwährungsschulden der Ukraine herabgestuft und betrachten die Umschuldung des Landes „als notleidend“. S&P senkte von „hohes Risiko eines Zahlungsausfalls“ auf „teilweiser Zahlungsausfall“, Fitch von „Zahlungsausfall hat begonnen“ auf „beschränkter Zahlungsausfall“. Auch die Fähigkeit der Ukraine, ihre Schulden in lokaler Währung zu bedienen, wurde auf „hohes Risiko eines Zahlungsausfalls“ gesenkt. Anfang August waren die ausländischen Gläubiger dem Antrag der Ukraine gefolgt, die Zahlungen für internationale Anleihen in Höhe von etwa 20 Milliarden US-Dollar für zwei Jahre einzufrieren. Allerdings beträgt das ukrainische Haushaltsdefizit, wie die Deutschen Wirtschaftsnachrichten meldeten, derzeit etwa 5 Milliarden Dollar monatlich. Da reichen die bisher 8,5 Milliarden Dollar Haushaltsunterstützung, die der Kongress bewilligt hat, nicht einmal für zwei Monate.

Der Politikwissenschaftler Lutz Kleinwächter hat auf dem „Potsdamer Außenpolitischen Dialog 2022“, veranstaltet von WeltTrends und Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg, darauf hingewiesen, dass die Ukraine bereits vor dem Krieg eines der ärmsten Länder Europas war. Das Bruttosozialprodukt pro Einwohner betrug 2020 in der Ukraine 3700 US-Dollar, gefolgt von Kosovo mit 4300 und Moldau mit 4500 Dollar. Nach Kaufkraftparität war es der dritte Armutsplatz, nach Kosovo und Moldau. Das Scheitern der Transformation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990/91 ist Hauptursache für die Unterentwicklung der Ukraine. Bei vergleichbaren Nachbarn lag die wirtschaftliche Entwicklung deutlich höher, im Falle Polens vierfach, bei Rumänien dreifach höher.

Wegen des korrupten Oligarchen-Kapitalismus ist die Wirtschaft der Ukraine unproduktiv und nicht konkurrenzfähig, obwohl sie zu sowjetischen Zeiten ein wichtiger Standort vor allem der Schwerindustrie war. Die Wirtschaft liegt im Vergleich zur EU bei unter zehn Prozent der Gesamtproduktivität und ist um Jahrzehnte zurückgeblieben. Was Demokratie und Rechtsstaatlichkeit betrifft, war die Ukraine schon vor dem Krieg hochgradig geprägt von politischer Instabilität. Demokratiepraxis und Rechtsausübung sind problematisch und, wie Kleinwächter betonte, mit westlichen Maßstäben nicht vergleichbar, eher mit anderen postsowjetischen Staaten wie Russland, Belarus und den Staaten Mittelasiens.

Der EU-Ratsbeschluss vom 23. Juni 2022, der der Ukraine (und der Republik Moldau) den „Status eines Beitrittskandidaten“ zuerkannte, war rein politisch und der aufgeheizten Situation geschuldet. Einen tragfähigen Ausgang des Krieges vorausgesetzt, wird die Ukraine auch in 20 Jahren nicht die Beitrittsbedingungen erfüllen. Die Kriterien von Kopenhagen für die Beitrittsländer sind zunächst drei: (1) Politische Stabilität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit; (2) funktionsfähige Marktwirtschaft und das Vermögen, dem Wettbewerbsdruck innerhalb der EU standzuhalten; (3) Übernahme des gesamten Gemeinschaftsrechts und die Fähigkeit, dieses umzusetzen. Das vierte richtet sich an die bereits existierende EU, nämlich ihre Fähigkeit, die Aufnahme des betreffenden Landes zu verkraften. Deshalb wurde in den 1990er Jahren, als die gegenseitigen Beziehungen deutlich besser waren, eine EU-Aufnahme Russlands dem Grunde nach ausgeschlossen; niemand hielt es für möglich, den riesigen Raum bis Wladiwostok von Brüssel aus durchherrschen zu können. Die Türkei hatte bereits 1959 bei der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft um Beitritt nachgesucht, den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten erhielt sie 1999. Ob sie oder die EU jemals beitrittsfähig ist, wird seit Jahrzehnten ad infinitum debattiert. Ähnlich würde eine Aufnahme der Ukraine die Integrationsprozesse behindern und vorhandene Konflikte, so bei der Subventionsverteilung, drastisch verschärfen. Die Europäische Union würde sich im Falle der Türkei wie dem der Ukraine strategisch überdehnen.

Im Westen wird voller Eifer über die wirtschaftlichen Folgen der „Sanktionen“ gegen Russland geredet. Tatsächlich aber wird über die russischen Kriegsziele nach wie vor orakelt. Wenn es ein Ziel war, die Ukraine nicht nur zu destabilisieren, sondern möglichst zu zerstören, so ist das in dem halben Jahr weitgehend gelungen. Im ersten Kriegshalbjahr 2022 ist ein drastischer Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um etwa 40 bis 60 Prozent zu verzeichnen. Zwei Drittel der Arbeitskräfte sind zurzeit nicht mehr wertschöpfend beschäftigt, weil sie in den Streitkräften sind, ihre Fabriken zerstört wurden oder sie ins Ausland geflohen sind. Die ukrainische Armee feiert die Zerstörung von Brücken in den besetzten Gebieten als großen Erfolg. Dabei wird ausgeblendet, dass dies Verkehrswege in der Ukraine sind, die auch nach dem Krieg gebraucht werden. Sieben Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, das sind etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung, haben bisher das Land als Flüchtlinge verlassen.