Der Berliner Historiker und Journalist Kai-Uwe Merz legte jetzt den vierten Band seiner Geschichte Berlins vor, in der er versucht, „die Stadt in den kulturhistorischen Blick zu nehmen, der sie methodisch als Ganzes würdigt, das sich aus den diversen Facetten ihrer kulturellen Existenz ergibt“. Das ist ein hehrer Anspruch, man ist geneigt, mit leichtem Gähnen abzuwinken … Man sollte das nicht tun, Merz praktiziert eine Sicht auf die Kulturgeschichte – zugegeben, es ist überwiegend die „Hochkultur“ – die man so immer noch viel zu selten findet. Er macht das mit Sachkenntnis und parteiischer Unvoreingenommenheit.
Ebenso wie im Vorgängerband „Wüste Berlin“, der die unmittelbare Nachkriegszeit behandelt, versucht er die Stadt tatsächlich als ganzheitlichen Organismus zu sehen, der sie genau genommen trotz Mauer und abgrenzungsbesoffener Stadtherren West wie Ost immer auch war. Peter Bender hat das vor etlichen Jahren in einer Darstellung der „gespaltenen Geschichte“ Deutschlands anhand der großen Kontrahenten Konrad Adenauer und Walter Ulbricht auf den Punkt gebracht: Die beiden hätten einander bedingt und ihr wechselseitiges Handeln wäre ohne den anderen vielfach nicht erklärbar. Die deutsch-deutsche Geschichte war immer eine gemeinsame.
Kai-Uwe Merz führt dieses politische Handlungsmuster im Kapitel „Stadtarchitektur“ seines Buches glänzend vor. Das Hansaviertel im ehemaligen Bezirk Tiergarten – als bleibendes Zeugnis der Interbau 1957 – wäre ohne die Stalinallee wohl nie so realisiert worden. Umgekehrt strahlte die Interbau auch auf den Ost-Berliner Chefarchitekten Hermann Henselmann aus: Der zweite Bauabschnitt „seiner“ Allee zwischen Strausberger Platz und Alexanderplatz – von dessen großer Vision nur noch eine städtebauliche Parodie erlebbar ist – nimmt durchaus den vom Hansaviertel über die Sektorengrenze geschmetterten Ball auf. Kai-Uwe Merz: „[…] man baute weiter im Wettstreit der Systeme“.
Das ist freundlich formuliert. Nach dem Mauerbau ging es mit gesteigerter Härte weiter. Die Hochhausklötze an der Leipziger Straße sind natürlich eine geballte Antwort des Ostens auf die Provokation des benachbarten Bürohochhauses des Axel-Springer-Verlages. Mit einem durchaus distanzierten Essay über Axel C. Springer beschließt Merz seinen Band. Hier weicht er von seinem ansonsten durchgängigen Gestaltungsprinzip, zum jeweiligen Sachthema eine Biographie Ost einer Biographie West gegenüberzustellen, ab. Im Zeitungswesen der DDR-Hauptstadt waren offensichtlich prägende Einzelpersönlichkeiten mit Charakter nicht auffindbar. Natürlich kommt auch bei Merz Karl-Eduard von Schnitzler ins Spiel. Aber nur als dilettierender Filmrezensent, der sich genötigt fühlte, den Angelica-Domröse-Erstling „Verwirrung der Liebe“ (1959) niederzumachen. Schnitzlers Hieb ging aber weniger gegen die Jung-Aktrice, sondern vielmehr gegen den Regisseur Slatan Dudow – nicht zuletzt wegen „Kuhle Wampe“ ein Säulenheiliger des sozialistischen Films. Schnitzler stellte dessen Unantastbarkeit in Frage. Hier fand eine Art Vorspiel des 6. Plenums 1965 statt.
Von dem wiederum konnte nur überrascht sein, wer das „Formalismus-Plenum“ des Jahres 1951 bewusst verdrängt hatte. Die Kulturbanausen des SED-Politbüros nahmen sich in regelmäßigen Abständen „ihre“ Künstler vor … Deren verhängnisvolles Agieren schildert Merz am Beispiel des Malers Otto Nagel, dem letztlich diese Spät-Stalinisten das Rückgrat brachen. Die biographische Skizze zu Otto Nagel bildet das Pendant zu der über Bernhard Heiliger, der problemlos vom Meisterschüler Arno Brekers – dessen Atelier am Käuzchensteig er dann auch noch übernehmen durfte – zum Hausheiligen der West-Berliner Kulturpolitik mutierte. Das ist erschreckend zu lesen, verwundert aber nicht sehr, wenn man die 2021er Ausstellung über solche Kontinuitäten im Deutschen Historischen Museum gesehen hat. Kai-Uwe Merz weist darauf hin, dass einer von Hitlers „Gottbegnadeten“, der Bildhauer Richard Scheibe, die zentrale Plastik des Gedenkensembles im Bendler-Block, dem Ort der Ermordung Claus Schenck Graf von Stauffenbergs, schuf.
Den großen Reiz des Buches macht die Darstellung der Vielzahl von Versuchen aus, in der politischen Eiszeit der 1950er Jahre – die Militärs, das darf nicht vergessen bleiben, hatten auf beiden Seiten stets den Finger am Abzug und scherten sich bei ihren Planspielen einen Dreck um das Schicksal der Menschen und ihrer Stadt … – zumindest auf kulturellem Gebiet gegen die unmenschliche Blockbildung Widerstand zu leisten. Da waren Otto Nagel und Hans Scharoun, Bertolt Brecht und Samuel Beckett, Walter Felsenstein und Boleslaw Barlog und viele andere. Wer wissen will, warum die scheiterten, warum das nicht aufging, warum dann die kulturelle „Wiedervereinigung“ der beiden Stadthälften ab 1990 so ablief, wie sie lief – der lese das Kapitel zur Kulturpolitik, besonders die Passagen über den Westberliner Senator Joachim Tiburtius sehr genau. Der stand seinen Ostberliner Kontrahenten in keiner Weise nach.
Ich hatte es schon anlässlich von Merzens „Wüste Berlin“ angemerkt: Anders als ihre aktuellen Politiker liebt dieser Autor seine Stadt. Die Wunden, die ihr von wem auch immer zugefügt werden, schmerzen ihn. Er verbirgt das nicht. Das ist eine zutiefst sympathische Schreibhaltung. Ich wünsche seinen Büchern eine weite Verbreitung.
Kai-Uwe Merz: Eiszeit Berlin. Eine Kulturgeschichte des Kalten Krieges, Elsengold Verlag, Berlin 2022, 256 Seiten, 26,00 Euro.
Schlagwörter: Berlin, Kai-Uwe Merz, Kulturgeschichte, Wolfgang Brauer