Im Jahre 1716 haben sich Preußens König Friedrich Wilhelm I. und Russlands Zar Peter I. in der romantischen kleinen Stadt Havelberg getroffen. Die Begegnung genießt in der deutsch-russischen Kulturgeschichte einen glamourösen Platz. Die Monarchen tauschten ehrerbietig respektable Gastgeschenke aus. 248 stattliche russische Bauernburschen durften auf Peters Befehl fortan als „lange Kerls“ unter preußischen Fahnen dienen. Friedrich Wilhelm I. knauserte ebenfalls nicht und überhändigte Peter I. das Bernsteinkabinett, das er aus der dritten Etage des Berliner Schlosses ausbauen ließ.
Die Danziger und Königsberger Bernsteinmeister Wolffram, Schacht und Turau hatten daran neun Jahre gearbeitet und das Kabinett erst um 1713 fertig gestellt. Der Architekt Andreas Schlüter hatte es für das Charlottenburger Schloss entworfen. Die Liste für den Transport nach Russland führte unter anderem auf: „1) Zwei Große Wandstücken, worinnen zwei Spiegelrahmen mit Spiegeln. 2) Zwei dergleichen Stücke, bei welchen nur ein lediger Spiegel Rahm. 3) Vier dergleichen Wandstücke, ein wenig schmäler, ein jedes mit einem ausgeschweifften Spiegel […] 7) Noch sind dabey gegeben folgende Stücke, so da können mit gebraucht werden, als: eine viereckt Brett ganz belegt, ein fertig Schildt mit einem palmiten Kopf, drei fertige palmiten Köpfe aus Holz, sieben kleine Köpfe. Vierzehn fertige Tulipanen, zwölff fertige Rosen. […].“ Die Teile – verladen auf eine Jacht, die ebenfalls als Geschenk an den Zarengingen dann in Sankt Petersburg in jenes legendäre Bernsteinzimmer ein, dessen Schicksal zu einem Sinnbild deutsch-russischer Tragödien geworden ist. Die freigiebigen Gesten von Havelberg sind darin eingeschlossen.
Die Monarchen schlossen am 27. November 1716 die „Konvention von Havelberg“, die aus zwei Deklarationen besteht. Peter und Wilhelm führten seinerzeit Krieg gegen Schweden und drohten in der einen Deklaration jenen ihrer eigenen Alliierten, die den Bündnisverpflichtungen untreu werden und einen Pakt mit Schweden eingehen wollten: Sollte versucht werden, Preußen Stettin und Vorpommern bis zur Peene wegzunehmen, würde Russland Preußen beistehen. König Friedrich Wilhelm I. versprach Russland im Gegenzug Hilfe für den Fall, daß versucht werden sollte, die von Russland eroberten ehemals schwedischen Ostseeprovinzen zu besetzen In der zweiten Deklaration sicherte der Zar dem Preußenkönig seine Unterstützung bei der Herauslösung Elbings aus der polnischen Lehenshoheit zu.
Die Vertragstexte bedürfen heute natürlich einer aufhellenden Erklärung: Seit 1700 erschütterten der Spanische Erbfolgekrieg und der Große Nordische Krieg Europa. Während im Süden Habsburger und Bourbonen ihre Untertanen auf den Schlachtfeldern dezimierten, schickte sich im Norden Russlands Peter I. gemeinsam mit den fragilen Verbündeten Dänemark und Polen-Sachsen an, die europäische Großmacht Schweden aus der Politik und Wirtschaft des Kontinents zu verdrängen. Russland sollte nach dem zarischen Willen eine europäische Großmacht ersten Ranges werden. Er stampfte dafür mit westlicher personeller und finanzieller Hilfe und Grausamkeit gegenüber seinen Landeskindern eine wirtschaftliche Basis aus dem Boden, die es ihm erlaubte, jene Armee und Flotte auszurüsten, die dem Kriegsgegner am Ende vernichtende Schläge zufügen konnte. Politik, Diplomatie und Kultur wurden diesem Ziel untergeordnet.
Sagen wir es ganz unverblümt: Die über Jahrhunderte ritualisierten Lobpreisungen des Westens, Peter I. habe Russland nach Europa geöffnet, das Fenster nach Europa aufgestoßen, natürlich mit westlicher Hilfe, erwiesen sich bereits damals ganz objektiv als zweischneidig. Alexander Puschkin hat es ein Jahrhundert später auf den Punkt gebracht: Russland trat unter dem Pochen der Äxte und dem Donner der Kanonen in die Weltpolitik ein! Eine Abkehr von der Autokratie stand dabei niemals zur Diskussion.
Als sich Peter und Friedrich Wilhelm in Havelberg trafen, war die Schlacht gegen Schweden im Grunde bereits geschlagen, Poltawa hatte 1709 die Wende gebracht, der Große Nordische Krieg näherte sich seinem Ende. Peters Sieg war mit den Händen zu greifen – auch hinsichtlich seiner Gebietsgewinne im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Die Kriegsparteien mussten darüber nachdenken, welche Folgen die neue russische Macht für jede von ihnen haben könnte und wie sie sich selbst gegenüber Petersburg positionieren müssten. Allgemein überwogen Ängste vor dem unbekannten Reich im Osten. Dazu gesellte sich die Überlegung, diesen neuen Feind rechtzeitig in die Schranken europäischer Machtstrukturen zu verweisen. Das traf auch auf Preußen und das Kurfürstentum Hannover zu, die sich bis 1713 nahezu gänzlich aus dem Nordischen Krieg herausgehalten hatten. Nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekriegs wollten sie ihre eigenen Besitzansprüche in Norddeutschland erfüllt sehen.
Die russische Gefahr hin oder her. Im Oktober 1713 kamen Russland und Preußen überein, dass Preußen das Gebiet bis zur Peene (mit Usedom und Wollin) zur Verwaltung erhalten sollte. Am 12. Juni 1714 schlossen sie einen Vertrag, der Preußen den Erwerb eines Teils Vorpommerns endgültig zusicherte. Dem gleichen Zweck diente auch das Bündnis Preußens mit Hannover vom 27. April 1714, und ein Jahr später erklärte Preußen Schweden sogar offiziell den Krieg. Im Oktober 1715 vollzog Hannover den gleichen Schritt.
Doch gerade das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Expansionswünsche der antischwedischen Alliierten in Mecklenburg steigerte ihr Misstrauen untereinander und besonders gegenüber Russland. Die Havelberger Konvention belegt die Konflikte. Die deutschen Partner und der dänische Verbündete argwöhnten, Zar Peter hätte längst einen geheimen Frieden mit Schweden geschlossen und führte den Krieg nur weiter, um sich dauerhaft in Norddeutschland festzusetzen. Die Folge: Ausgehend vom Kurfürsten von Hannover, der gleichzeitig König Georg I. von England war, schlossen Großbritannien-Hannover, die Niederlande und Frankreich 1717 eine Allianz, die Russland zawr in die politische Isolation drängte, dessen Kampfeslust jedoch nur noch mehr anstachelte. Die Ironie der Geschichte bestand darin, dass England den gesamteuropäischen Krieg zwar komplettierte, aber ausgerechnet mit seiner gewaltigen Flotte gegen Peters Seemacht unterlag und um Frieden bitten musste – der 1721 zum Ruhme Peters I. geschlossen wurde.
Und was dachte das einfache Volk? Das Vordringen der Russen empfanden auch die Hannoveraner unterhalb des Regenten damals keineswegs als besonders fortschrittsfördernd und sannen darüber nach, wie man die expandierende russische Großmacht von Zentraleuropa fernhalten könnte. Dem Zeitgeist gehorchend setzten die meisten Strategen ja nur auf die militärische Konfrontation. Da ging es um die gefechtsdienliche Ausrüstung der Streitkräfte, man debattierte erbittert über Sieg und Niederlage und weniger darüber, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Mit Subsidienverträgen rüstete man hilfsbedürftige und dienstbare Koalitionäre auf. Aber da gab es auch den gewitzten Gesandten Joachim Hinrich von Bülow (1650-1724), dessen umfangreiche Bibliothek später den Grundstock für die berühmte Göttinger Universitätsbibliothek bilden sollte. Bülow filterte aus dem reichen Schatz der Weltweisheit und seinem Verstand pfiffige Gedanken. Der getreue Hinrich darf das historische Privileg für sich in Anspruch nehmen, als erster Politiker den Einsatz von Wirtschaftssanktionen zur Begrenzung der Macht Russlands empfohlen zu haben.
Von Bülow hat Überlegungen mit weitreichenden Konsequenzen in die Welt gesetzt: Wie kann eine einheitliche europäische Allianz gegen Russland geschmiedet werden? Wie ist die Bündnisfähigkeit und Bündniswilligkeit der einzelnen europäischen Mächte für die Allianz zu bewerten? Die Antworten hingen davon ab, welche Ziele Russland in Zukunft verfolgen würde. Doch wer wusste das schon? Bülow spekulierte, Russland könnte sich nach dem Sieg über Schweden die polnische Krone aneignen, seinen Besitz in Schleswig-Holstein festigen und Dänemark durch den Bau eines Kanals von der Ost- zur Nordsee vom europäischen Festland abschneiden. Mecklenburg würde demnächst in das Russische Reich integriert werden und der Kanal würde der russischen Flotte die freie Durchfahrt zum Atlantik ermöglichen. Der triebhafte russische Drang nach Westen würde keine Grenzen kennen! Eine Horrorvorstellung!
Doch Bülow wusste Rat! Zar Peter ist ja nicht dumm, sagte sich der Mann aus Hannover. Peter dachte und handelte in der Komplexität politischer, wirtschaftlicher und militärischer Interessen, die einander durchdrangen. Zwar richtete der russische Herrscher vor und nach dem Sieg über Schweden seinen begehrlichen Blick auch auf Persien, aber die Interessen im Ostseeraum würde er darüber wohl kaum vernachlässigen.
Da konnte man ruhig bei dem einmal beschworenen Schreckensbild bleiben: „Es hat um Teutschland und den ganzen Norden noch nie so gefährlich als jetzo gestanden, und seind die Russen weit mehr zu fürchten als die Türken, weil sie nicht wie diese bei ihrer groben Unwissenheit verbleiben und nach vollbrachter Ravage zurückgehen, sondern in Krieges und Staatssachen mehr und mehr Wissenschaft und Erfahrung erlangen, an Verschlagenheit und Dissimulation es vielen Nationen zuvortuen und uns allmählich immer näher kommen. Wenn man warten will, bis sie auch diesseits der Ostsee zu Lübeck, Wismar, Danzig oder andererorten sich feste gesetzet haben, wird es zu späte sein und Teutschland von ihnen mehr und ärger, als jemalen von denen Hunnen und Türken geschehen, verheeret und verwüstet werden.“
Bülows Rezept: „Jetzo aber ist es noch Zeit und ein Mittel übrig, dem Unheil vorzukommen, wenn man mit denen Russen alles Commercium aufhebet und die Quellen ihrer Macht und Reichtums auf einmal verstopfet.“
Also – Wirtschaftssanktionen waren gefragt! Sie sollten der von Peter propagierten Europäisierung Russlands durch Machtentfaltung den Boden entziehen. Eine Wirtschaftsblockade war erforderlich, „damit weiter kein Geld denen Russen zugeschleppet wird“. Konkret galt es, diesen Weg auszubauen, die Holländer auf ihn zu drängen – um den Lebensnerv des russischen Außenhandels zu treffen. Mandate an die deutschen Seestädte und Einfuhrverbote auf die russischen Waren, die den Landweg über Polen und Schlesien nahmen, hatten die Abdrosselung zu vollenden.
Militärisch würde man gegen Russland wenig erreichen, meine Bülow. Nur ja keine direkte Beteiligung am Krieg! Im Endergebnis legte sich Bülow fest: „Und erhellet also […] hieraus, wie gefährlich der Zar für Teutschland sei, und daß man keine Ruhe und Sicherheit haben könne, wo man nicht in Zeiten gesamter Hand gegen ihn aufstehet und seine Macht durch Entziehung derer Commercien bricht, auch mit der Zeit wieder in die alte Grenzen zurück treibet.“
Zu Bülows Ehrenrettung darf eingeschränkt werden, dass niemand genau weiß, ob seine diesbezügliche Denkschrift den zeitgenössischen politischen Entscheidungsträgern jemals zu Gesicht gelangt ist. Es hätte auch jede Vernunft dagegengesprochen: Woher sollten künftig die schönen sibirischen Zobelpelze kommen? Außerdem gibt es keinen Beleg dafür, dass sich Peter der Große über etwaige westliche „kleine Sanktiönchen“ gegen sein Reich echauffiert hätte. Im Gegenteil, der Nordische Krieg bildete die Grundlage künftiger russischer Reichspolitik. Doch die Muse Clio duldet kein Vergessen: 300 Jahre später ist Bülows Vermächtnis endlich, endlich Wirklichkeit geworden. Mal sehen, was daraus wird …
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