Im April verglich Japans Ex-Premier Shinzō Abe auf einem Symposium Russlands Präsident Putin mit Oda Nobunaga (1534–1582), jenem ruchlosen Heerführer, aber auch weitsichtigen Wirtschaftsreformer aus der Zeit der Streitende Reiche (Sengoku) – mit einer ausgeprägten Schwäche für „human intelligence“: Wie Nobunaga sei Putin extrem pragmatisch und machtorientiert. Die über sein autoritäres Regime vorliegenden Informationen, erklärte Abe seinem Publikum, seien nicht richtig ausgewertet worden, was zu einer falschen Lageeinschätzung und letztlich zur Invasion in die Ukraine geführt habe – …
Durchaus möglich, dass sich Abe mit dieser Einschätzung auch selbst beschrieb: hemmungsloser Pragmatismus, knallharte Machtpolitik und Kontrollwahn beschreiben prägnant das Wesen dieses Ausnahmepolitikers.
Auf alle Fälle brachte der erste nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Ministerpräsident (*1954) viel frischen Wind in Japans Politik und Gesellschaft.
Jetzt ist er tot, niedergeschossen während einer Wahlkampfveranstaltung in der ehemaligen Kaiserstadt Nara. Töne und Bilder haben sich tief ins Bewusstsein eingegraben, auch wenn sie „nur“ über Youtube kamen: Die Schüsse, der blutüberstömte Körper – aber auch die verstörende Anreise seiner Ehefrau Akie …
Nicht zuletzt aufgrund seines sinnlosen Todes dürfte Abes Liberaldemokratische Partei (LDP) bei den Oberhauswahlen am 10. Juli, zwei Tage nach dem Attentat, ein Ergebnis eingefahren haben, das es ihr ermöglichen wird, Abes lang gehegten Wunsch nach einer Revision der japanischen „Friedensverfassung“ endlich zu erfüllen.
Der Schock über Abes Ermordung hält an und geht quer durch Japans Gesellschaft. Dabei war Abe bis zuletzt ein äußerst umstrittener Politiker:
- Für die einen ein übler Revisionist und Rechtsausleger, der im Yasukuni-Schrein regelmäßig Kriegsverbrecher ehrte, der sich stark machte für die Modernisierung und Internationalisierung der japanischen Streitkräfte aufgrund einer Neuinterpretation der japanischen Verfassung, die ein Recht auf kollektive Selbstverteidigung“ festschreibt, und der ein Sicherheitsgesetz durchboxte, das es, ohne den Begriff „Staatsgeheimnis“ näher zu definieren, ermöglicht, Bürger wegen des (vermeintlichen) Verrats von Staatsgeheimnissen bis zu zehn Jahre wegzusperren,.
- Für andere ein aufrechter Patriot und Heilsbringer, der mit seinem Versprechen, den Menschen „Japan zurückzugeben“ Hoffnung machte.
Und dann war da noch seine „Abenomics“ genannte Wirtschaftspolitik, die in ihrer Mischung aus geldpolitischen Lockerungen, strukturellen Reformen und steuerlichen Anreizen auch zwei Jahre nach Abes Abgang als Ministerpräsident nicht nur unter Wirtschaftswissenschaftlern Gegenstand heftigster Debatten ist.
Ja, Abe hat polarisiert. Aber er hätte sich nicht fast acht Jahre im Amt halten können, wenn ihn sein politischer Instinkt nicht immer wieder dazu befähigt hätte, politische Kontrahenten innerhalb und außerhalb seiner Partei nicht nur zu marginalisieren, sondern auch pragmatisch einzubinden.
Offensichtlich verfügte Abe über die (nicht nur) für Politiker seltene Gabe, Dinge aus sehr unterschiedlicher Perspektive zu betrachten. Eine wichtige Rolle dabei mögen seine tiefe Verwurzelung in der japanischen Tradition gespielt haben, wie sie bereits im Titel seines 2006er Bestsellers „Vorwärts zu einem schönen Land“ – eine deutliche Anspielung auf die klassische japanische Machtästhetik – zum Ausdruck kam, aber auch seine Weltgewandtheit. Nach Studien in den USA begleitete er seinen Vater Shintarō Abe, zwischen 1982 und 1986 Außenminister unter Yasuhiro Nakasone, als persönlicher Assistent auf 20 Auslandsreisen.
Glen S. Fukushima, ehemaliger Präsident der US-Handelskammer in Japan, nennt fünf Faktoren für Abes erfolgreiche Politik: 1. eine zerrüttete Opposition; 2. das Regierungsfiasko der Demokratischen Partei Japans (2009-2012); 3. die starke Kontrolle potentieller innerparteilicher Kontrahenten; 4. eine Sozialpolitik, die der Opposition wenig Angriffsfläche bot, sowie 5. die Schaffung einer „präsidialen“ Ministerpräsidentschaft durch umfassende Stärkung des Büros des Amtsträgers.
Die größte Lehre, die Abe aus seiner ersten missglückten Ministerpräsidentschaft (2006/07) gezogen habe, so Fukushima, sei gewesen: als Premier nie die Zügel aus der Hand geben. Gemeinsam mit seinem Adlatus, Kabinettssekretär Yoshihide Suga (der ihn 2020 als Ministerpräsident beerbte), sorgte Abe dafür, dass künftig alle Fäden bei ihm zusammenliefen. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Das begann mit massiven Versuchen, den akademischen Diskurs in Sachen japanische Geschichte in Richtung einer „weniger masochistischen“ Betrachtung bestimmter historischer Ereignisse, insbesondere den Zweiten Weltkrieg betreffend (Nanking-Massaker, „Trostfrauen“), zu lenken.
Vor allem jedoch bedeutete es nachhaltige Kontrolle der Hochbürokratie mit Hilfe einer 2014 im Kabinettsbüro geschaffenen speziellen „Personalabteilung“.
Darüber hinaus wurde die Zahl der in den Ministerien zwecks Kontrolle installierten „politischen Beauftragten“ erhöht. Auch kam es zur verstärkten Ernennung von „Sonderberatern“ innerhalb des Büros des Ministerpräsidenten. Einer der bekanntesten dürfte Abe-Intimus Takaya Imai gewesen sein: ein ehemals hoher Beamter im Ministerium für Internationalen Handel und Industrie (MITI), der mit seiner gegenüber China, Russland, Nordkorea und den USA formulierten Politik nicht selten in Widerspruch zu der vom Außenministerium formulierten Linie geriet.
Doch nicht nur personell, sondern auch institutionell wurde das Büro des Ministerpräsidenten verstärkt, und zwar 2013 in Form eines Nationalen Sicherheitsrates (NSR), ebenfalls eine frühe Idee Shinzō Abes. Erster NSR-Chef: Shōtarō Yachi, Ex-Vizeaußenminister und enger Vertrauter des Premiers. Der NSR begann mit etwa 60 Mitarbeitern – abkommandiert im wesentlichen aus dem Außen- und Verteidigungsministerium. 2019 übernahm Japans oberster Nachrichtendienstler, Shigeru Kitamura, die Behörde, gleichzeitig wurde das Personal aufgestockt, um ein neues Aufgabenfeld in Angriff zu nehmen: wirtschaftliche Sicherheit – ein weites Feld, das von Cybersicherheit über Technodominanz bis hin zum Patentschutz reicht.
All dies, so Glen S. Fukushima, sei Ausdruck für Abes unstillbaren Hunger nach verlässlichen Informationen über politische Gruppierungen und Einzelpersönlichkeiten im In- und Ausland gewesen.
Dabei war Abes Politik inhaltlich insgesamt eher konservativ. Sehr zum Missfallen ultrakonservativer Lobby-Gruppen wie der „Japankonferenz“ (JK), deren Mitglied Abe war. Entstanden 1997 als Zusammenschluss einer Kriegsveteranenorganisation und diverser Shinto- und anderer religiöser Kulte steht die Japankonferenz für eine militarisierte Gesellschaft sowie für sogenannte traditionelle Familienwerte. Nach eigenen Angaben zählt die Organisation rund 50.000 Mitglieder.
Selbst die von Abe 2014 angeschobene Neuinterpretation der japanischen Verfassung, im In- und Ausland von Liberalen weitestgehend kritisiert, geht eingefleischten JK-Mitgliedern nicht weit genug: Noch immer, moniert der aus Tokio stammende Aktivist Hiroyuki Fujita, seien die japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte kein wirkliches Militär, sondern eine Polizeitruppe, die ziviler Gesetzbarkeit unterliege, was weitreichende Folgen für ihre Einsetzbarkeit habe.
Weder Abes Bildungspolitik, noch seine Familienpolitik fanden die ausdrückliche Unterstützung der Japankonferenz. Während Abes Versuche einer Wiedereinführung des stark konfuzianistischen geprägten Kaiserlichen Bildungsedikts von 1890 in den heutigen Schulbetrieb Beifall bekam, wurden seine Versuche einer Internationalisierung des japanischen Hochschulbetriebs durch vermehrte Gewinnung ausländischer Professoren weit weniger enthusiastisch aufgenommen.
Shinzō Abe polarisierte:
- Einerseits bekam er für seine zögerliche Haltung in der Frage, ob zur „Sicherung einer stabilen kaiserlichen Thronfolge weiblichen Mitgliedern der Kaiserlichen Familie gestattet werden sollte, einen neuen Familienzweig zu begründen, sowie seine Ablehnung von Doppelnamen für verheirateten Paare, viel Beifall von rechts.
- Andererseits ist da Abes „Womenomics“ – die Förderung von Frauen im Beruf – sowie sein Engagement für bessere Kinderbetreuung. (Auch wenn diesbezüglich nicht sehr viel erreicht wurde – statt die von Abe angepeilten 30 Prozent bei weiblichen Führungskräften sind es bisher nur magere 12 Prozent; zwar stieg unter Abe die Zahl weiblicher Arbeitskräfte auf über 50 Prozent, allerdings schuftete mehr als die Hälfte von ihnen in Teilzeitjobs; auch Kinderbetreuung blieb trotz dramatisch verringerter Geburtenzahlen ein Problem; außerdem fielen 2019 mehr als die Hälfte der alleinerziehenden Mütter unter die Armutsgrenze;2012 waren es noch rund 45 Prozent gewesen – allein die Tatsache, dass der Premier mit der Idee brach, dass Frauen an den Herd gehören, dürfte vielen JK-Jüngern bitter aufgestoßen sein.)
Auch innerhalb der LDP begann Abe, Neuland zu betreten. Mit Tomomi Inada, einer radikalen Geschichtsrevisionistin, aber auch Anwältin für Frauen- und LGBT-Rechte, baute Abe systematisch eine Kandidatin für den höchsten LDP-Posten auf, übertrug ihr wichtige Ämter in der Partei (so war sie Vorsitzende des Politischen Forschungsrates), betraute sie mit heiklen Missionen (unter andrem nach Moskau) und machte sie 2016 schließlich zur ersten Verteidigungsministerin. Nur widerwillig ließ er sie ein Jahr später fallen, nachdem sie sich hoffnungslos in einen Vertuschungsskandal des Verteidigungsministeriums verstrickt hatte.
Abes widersprüchliche Gedankenwelten, seine Fähigkeit, auch einmal „um die Ecke zu denken“, dürften nicht zuletzt Ergebnis seiner mehr als dreißigjährigen Verbindung mit Akie Abe, seiner Gattin, gewesen sein. Nach ihrer Heirat 1987 arbeitete die Tochter eines erfolgreichen Süßwarenherstellers und studierte Sozialdesignerin als Radio-DJ in Abes Heimatstadt Shimonoseki. Als Ministerpräsidentengattin nahm sie an Gay-Pride-Paraden teil, machte sich stark für Frauenrechte, engagierte sich für die Legalisierung von medizinischem Marihuana, kritisierte ihren Gatten für dessen Pro-Atom-Politik sowie für seine Zustimmung zum Ausbau der US-Militärbasen in Japan. Trotzdem schienen beide einander stets sehr zugetan gewesen zu sein. Eine durchaus erfolgreiche Symbiose. Und ein Glücksfall – nicht nur für Japan …
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