25. Jahrgang | Nummer 8 | 11. April 2022

Russland löscht mit Ukraine-Krieg
einstige Erfolge der Entspannungspolitik aus.
Und nun?

von Daniela Dahn

Mit 93 Jahren hielt Egon Bahr seine letzte Rede, drei Wochen vor seinem Tod. Kein Zufall: in Moskau. Der Vordenker sozialdemokratischer Entspannungspolitik zwischen Ost und West fragte darin, ob die Ostpolitik der 60er Jahre wiederholbar sei. Viele Konflikte seien konstant geblieben, aber neue hinzugekommen, die für ein Bündnis beider Seiten sprächen. „Niemand nähme einen Schaden, wenn die Situation auf der Krim respektiert wird, ohne zeitliche Begrenzung.“ Man müsse „die Hand am Puls des anderen halten“, um Überraschungen und Missverständnisse zu vermeiden. Eine neue Entspannungspolitik sei sowohl wegen unserer schmerzhaften Geschichte wie auch im wohlverstandenen Eigeninteresse das Gebot der Stunde. Egon Bahr wollte auf einen Zustand hinwirken, in dem Europa mit Russland, unter Mitwirkung der USA, zu einem attraktiven Kontinent des stabilen Friedens in einer interpolaren Welt wird. „Das ist mein Traum.“

Was hätte Egon Bahr zur Invasion russischer Truppen in die Ukraine gesagt? Man muss der Versuchung widerstehen, ihm nun Worte in den Mund zu legen, es empfiehlt sich, bei den vielseitigen Äußerungen zu bleiben, die er hinterlassen hat. Der langjährige Direktor des Hamburger Instituts für Friedensforschung wollte das Recht des Stärkeren in die Stärke des Rechts verwandelt sehen, jeder kriegerische Einsatz ohne UN-Mandat war ihm ein gegen das Völkerrecht verstoßender Aggressionskrieg, wie damals der NATO-Krieg gegen Restjugoslawien. „Alle erkennbaren Probleme, denen sich die Welt gegenübersieht, sind nicht militärisch lösbar“, hat er in seinem Buch Ostwärts und nichts vergessen! beschworen. Er hätte vermutlich genauso wie wir Heutigen Russlands Krieg gegen die Ukraine scharf verurteilt und zutiefst bedauert, auch weil man in dem Leid aller Beteiligten und der sinnlosen Zerstörung keine Wahrung russischer Interessen erkennen kann. Dieser Krieg löscht neben vielen Hoffnungen auch alle einstigen Erfolge der Entspannungspolitik aus.

Schon heißt es, man müsse Abschied nehmen von der Sehnsucht nach einer entmilitarisierten Welt. Sicherheit in Europa müsse nun gegen Russland durchgesetzt werden, eine Erwägung, die Bahr immer für ausgeschlossen hielt. „Wandel durch Annäherung“, das berühmte Motto der deutschen Entspannungspolitik – alles nur noch Folklore. Mit seiner Tutzinger Rede hatte Egon Bahr schon 1963 den Grundstein für ein Umdenken gelegt. Die bisherige Politik des Drucks und Gegendrucks habe nur zur Erstarrung der Beziehungen geführt, wolle man eine Öffnung, scheide „die Politik des Alles oder Nichts“ aus. Mit der Forderung, auch die Interessen der anderen Seite berücksichtigen zu müssen, berief er sich auf den US-Präsidenten John F. Kennedy. Diese Haltung sei „rasend unbequem“, aber alternativlos.

Heute stellt sich die Frage, ob die an Entspannung Interessierten zu viel auf den einstigen SPD-Bundeskanzler Willy Brandt und seinen Berater Egon Bahr gehört haben, oder eher zu wenig. 1999, während des NATO-Krieges gegen Russlands Verbündeten Serbien, sagte Bahr im Schweizer Radio: „Ich weiß genau, dass Russland nicht so schwach bleiben wird, wie es im Augenblick ist. Wir können im Prinzip jetzt alles tun, was wir wollen, Russland kann es nicht verhindern. Aber ich warne davor, ein großes und stolzes Volk zu demütigen.“ Ja, der Westen hatte die Chance, alles zu tun – etwa den Sowjets für ihren gutwilligen und politisch bedingungslosen Truppenabzug aus ganz Osteuropa mit einem Friedenskonzept unter Einbeziehung Russlands zu danken. Als der Starke hätte der Westen die Verantwortung für ein solches Angebot übernehmen müssen. Dass er stattdessen auf Konfrontation durch Aufrüstung und NATO-Osterweiterung setzte, hat Bahr als einen Jahrhundertfehler bezeichnet. Er hätte es begrüßt, wenn sich das Bündnis aufgelöst und als gesamteuropäisches Sicherheitssystem neu formiert hätte. Damit war er in der SPD nicht allein.

In jenem Buch zitierte er Helmut Schmidt: „Das könnte den Amerikanern so passen, wenn durch eine weitere Ausweitung der NATO die Spannungen zu Russland zunehmen und damit Europa schutzbedürftiger wird. Die NATO gehört nicht Amerika.“ Sehr wahrscheinlich würde Bahr heute zu den verbliebenen unabhängigen Denkern gehören, die sagen, dass es nicht zu diesem Krieg gekommen wäre, wenn die NATO sich nicht wie ein Rollkommando nach Osten ausgedehnt hätte; wenn nicht zusätzlich der Versuch, die russischen Wurzeln in der Ukraine zu kappen – das erklärte Ziel derer, die für die „Farbrevolution“ agierten –, ein gefährlicher „Narrenstreich“ gewesen wäre. So sagt es heute Jack Mattlock, einst US-Botschafter in Russland. Auch Noam Chomsky sieht dieses schwere Kriegsverbrechen von der Vorgeschichte provoziert, wie sein berühmter Kollege, der Politikwissenschaftler John Mearsheimer, der die USA verantwortlich macht, die Ukraine in ein De-facto-Mitglied der Nato verwandelt zu haben. Sie haben die Ukraine behandelt, als gehöre sie ihnen, ergänzt der Soziologe Wolfgang Streeck.

Der Kreml hat allen Grund, sich verraten, bedroht und erbittert zu fühlen, aber nicht den geringsten Grund, noch so berechtigte Sicherheitsinteressen durch Kriegsverbrechen durchsetzen zu wollen. Dieser Krieg ist die Antwort einer neureichen kapitalistischen Großmacht auf die Herausforderung einer altreichen kapitalistischen Großmacht. Dabei reagieren die schwächeren Brüskierten oft schlimmer als die starken Herausforderer, siehe das Aleppo-Syndrom. Doch selbst beim Zerbomben ganzer Städte sind die USA mit schlechtem Beispiel vorausgegangen, wie man im irakischen Mossul verdeutlicht bekam […].

Solcher Argumentation ist inzwischen vorgebeugt durch den opportunistischen Vorwurf des Whataboutismus. Die antiimperialistische Linke solle gefälligst aufhören, alle Verbrechen der Feinde des Westens durch die reflexartige Frage abzumildern: What about die Vergehen der USA und der NATO? Dabei geht es bei diesen Vergleichen nicht ums Relativieren oder gar Rechtfertigen, sondern um die Verteidigung kausalen Denkens. Jedes Kind beteuert im Streit, nicht angefangen zu haben – ein früh verinnerlichtes Maß für Gerechtigkeit. Die Großmedien geben gern den Anfang eines Narrativs vor, so hat der Ukraine-Konflikt mit der Annexion der Krim begonnen. Bahr stand in engem Austausch mit seinem Genossen, dem Friedenspolitiker Erhard Eppler, der damals fragte: „Warum ist niemand auf die Idee gekommen, mit Putin über das Assoziationsabkommen zu reden?“ Er hätte sich kaum auf die Vertragstreue des Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk, den „Mann des State Department“, verlassen können. Selbstkritisch wäre anzumerken, dass der Fokus der deutschen Linken auf dem hochmütigen Umgang des Westens mit Russland lag, während das Zerriebenwerden der Ukraine zwischen den Großmächten weitgehend aus dem Blickfeld geriet.

Kontextualisierung sollte zum Handwerkszeug seriöser Geschichtsschreibung gehören. Immer ist der Schnee von gestern die Sintflut von heute. Der jetzige russische Angriffskrieg setzt neue Prämissen und muss zu neuen Schlüssen führen. Aber bitte ohne Verbote zu ursächlichem Denken, das für Bahr elementar war, und ohne Gebote zu ausschließlicher Diffamierung. Derzeit obsiegt eine quasi McCarthy-Stimmung, in der nur noch Bekenntnisse zählen: Gehörst du zu uns oder zu denen? Bist du ein Good Guy oder ein Bad Guy? Die 27.000 PR-Spezialisten des US-Verteidigungsministeriums mit ihrem Jahresbudget von fünf Milliarden Dollar werden sich die Hände reiben über diesen einfachen Coup: Der Hinweis auf moralische Doppelstandards ist jetzt genauso verpönt wie der auf strukturelle Zusammenhänge. Einschüchterungsversuche hat zu seiner Zeit auch Bahr erfahren, er war ungehalten über derart „widerliche Heckenschützen“.

Wird sich die SPD unter all den Umständen zum Erbe der Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr bekennen? Immerhin hat sie jahrzehntelang funktioniert und war die Voraussetzung der deutschen Einheit. Für diese Politik bestand daher ein klarer demokratischer Auftrag: Noch im April 2018 ermittelte eine Forsa-Umfrage, dass 94 Prozent der Deutschen gute Beziehungen zu Russland für wichtig halten. Wie schnell das geht. Erst wird man zum Feindbild, dann tatsächlich zum Feind. Die 100 Milliarden Euro Sonderfonds für die Bundeswehr, die Kanzler Olaf Scholz im Deutschen Bundestag proklamiert hat, werden schon deshalb nicht mehr Sicherheit bringen, weil sie den drohenden Klimakollaps beschleunigen. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich beklagte zu Recht, die Jungen werden uns dafür verurteilen, das wir ihnen keine bessere Welt übergeben. Eine Schuld, die wir abtragen müssten.

Man wisse nicht, so Bahr, wie Russland sich entwickeln werde, es sei aber geneigt, sich Europa zuzuwenden. Die Bereitschaft zur Kooperation, etwa bei der Rüstungskontrolle, nicht auszunutzen, wäre töricht und ein historischer Fehler. Er sei kein Antiamerikaner, die größte Weltmacht könne durch nichts ersetzt werden. „Sollen sie machen. Aber soweit wir das mit den Europäern schaffen, erledigen wir unsere Angelegenheiten jetzt europäisch. Wenn wir das nicht machen, bleiben wir Protektorat. […]“

Die Emanzipation von Amerika war für Bahr ein zentrales Anliegen. Denn die NATO sei „zu einem Instrument im Interesse der hegemonialen Strategie der Vereinigten Staaten“ geworden. Er plädierte für einen „European Way of Life“. Der ist nun für lange Zeit vorbei. „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt“, brachte er 2013 einer erstaunten Schulklasse in Heidelberg bei.

Als er mit 89 Jahren noch einmal heiratete, war auch der einstige Botschafter Walentin Falin geladen und sein zuverlässiger „back channel“-Freund Wjatscheslaw Keworkow. Das war eine offizielle, aber verdeckte deutsch-russische Verbindung zwischen Entscheidungsträgern. Ein Kanal, der viele Jahre vertrauensvoll funktioniert und womöglich manch Ungemach in den Beziehungen vermieden hat. Keworkow hatte die Verhandlungen mit Egon Bahr vorangetrieben, die 1970 zum Moskauer Vertrag führten. Der wohl wichtigste Erfolg seiner Politik, die Basis der folgenden Jahre der Entspannungspolitik. All diese Anstifter einstiger Verständigung leben nicht mehr. Heute sind alle Verträge nichtig, es geht nur noch darum, sich gegenseitig den größtmöglichen Schaden zuzufügen. Der Weg dahin wird uns noch lange umtreiben.

„Wer sich mit Russland einlässt, kann die Berührung mit Tragik nicht vermeiden.“ Mit dem Gedanken begann Bahr sein Nachwort für das Erinnerungsbuch von Keworkow. Die Dimension der Tragik bezog er hier auf die generelle Unfähigkeit der Mächtigsten in einem mächtigen Staat, sich aus den Zwängen ihres Systems zu lösen und zuzulassen, dass die Kleineren im historischen Strudel in die Fehler und Irrtümer hineingezogen werden. Eins hat der unbequeme Egon Bahr jedenfalls erreicht. Zu seinem hundertsten Geburtstag ist er durchaus präsent und beschäftigt die Gemüter. Gratulation!

der Freitag, 11/2022. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.