25. Jahrgang | Nummer 7 | 28. März 2022

Vor dem Feldzug. Aufzeichnungen aus dem Tagebuch

von Holger Politt

Nachfolgende Tagebuchnotizen stammen aus der Zeit kurz vor dem Beginn des Putin-Feldzuges gegen die Ukraine. Die Leidtragenden sind in erster Linie die in jeder Hinsicht völlig unschuldigen Menschen in der Ukraine, in zweiter Linie aber auch die in einer schrecklichen Lügenkampagne seit Jahren systematisch für dumm verkauften Menschen in Russland. Was die Welt seit dem 24. Februar 2022 erlebt, ist zutiefst tragisches Geschehen für die Ukraine, zugleich aber auch eine wahre Katastrophe für Russland, als dessen großer Anführer sich Putin gerne präsentiert.

13. Februar

Die Amerikaner bevorzugen Luftschläge, Putin setzt auf Panzerketten. So als hätte der Kreml seit 1968 nichts dazugelernt. Ein wenig der Eindruck, als sei nun die Ukraine für Moskau so etwas wie Tschetschenien, ein innerer Konflikt, der den anderen und nicht eingebundenen Leutchen eigentlich nichts angehe.

14. Februar

Der Eindruck, dass nun Putin so auf den Krieg drängelt, denn manchmal mutet es wie Hitler vor München an. Nur ist die Zeit vorbei, wo über andere Köpfe hinweg über fremdes Land entschieden wird. Der Kreml jedenfalls versucht, Kiew mit allen Mitteln zurückzuhalten. Dennoch sprechen die Winterolympiade in Beijing und die diplomatischen Reisen, Scholz heute hier, morgen Moskau, dafür, dass Putin noch nicht die Reißleine zieht. Und dann? Alles klar, alles unklar.

15. Februar

Militärs in Deutschland sehen die Gefahr, halten aber einen Kriegsausbruch für unwahrscheinlich. Vielleicht, Putin hat andere Wege. Den offenen Kampf würde er nicht durchstehen. Auf der Hut bleiben, dem Mann ist nicht zu trauen. Jetzt wird an einem Anlass gebastelt.

16. Februar

Putin zieht wohl zurück, behauptet jetzt, nie die Absicht gehabt zu haben, das Nachbarland zu überfallen. Den deutschen Friedensfreunden aber ins Stammbuch: auch die Ukraine war UdSSR. Deren Selbständigkeit ist nicht Nato-Werk. Schlimm die Position, die dem gefährlichen Kriegsspiel im Kreml direkt in die Hand spielt. Olaf Scholz kam wohl einigermaßen klar mit Putin. Jedenfalls wird Putin jetzt nicht riskieren, vor aller Welt und ohne akzeptablen Grund als Aggressor, als feiger Aggressor dazustehen. Wozu also die gespenstische Drohkulisse? Kleiner Sieg der Ukraine, wenigstens.

17. Februar

Putin nun der Blamierte, denn das Pokerspiel gegen den Westen ist verloren. Belässt er die Drohkulisse, steht er als Kriegstreiber da. Also muss er abrücken, ohne nennenswerte Ergebnisse vorzeigen zu können. Rückt er später ein weiteres Mal an, wäre es zwar nicht leere Drohung, im Gegenteil, doch kann er kein zweites Mal behaupten, er wäre der Angegriffene. Ein zynisches Spiel, denn 1994 verzichtete die Ukraine auf Atomwaffenbesitz. Dafür garantierten die großen Atommächte die territoriale Integrität. Ein feiger Schachzug Putins also, er ist der große Verlierer. Zuletzt versuchte Hitler die anderen so vorzuführen, indes suchte der tatsächlich den Krieg, fand den auch. Dies der große Unterschied zu heute, denn Putin will keinen Krieg. Aber er spielt machtpolitisch, will die Anerkennung der Einflusssphäre, so als gäbe es die Entwicklungen seit 1989 nicht.

18. Februar

Das russische Militär droht weiter, Putin will keine selbständige Ukraine, er zielt auf Finnlandisierung. In der ZEIT ein Beitrag einer finnischen Autorin, die aus Estland stammt, in Kinderjahren nach Finnland kam, die ein ablehnendes Wort gegen solche Pläne spricht, weil das eines der außenpolitischen Konzepte im Kreml sei. Da ist vieles richtig, der Vorgang der Finnlandisierung sieht natürlich von außen lustiger aus. Dennoch: Es wäre ein Weg zur wirtschaftlichen Entwicklung, außerdem wollen die Russen in der Ukraine sowieso keinen Konflikt mit Moskau, im Gegenteil. Jetzt zu sehen, dass Russland die Donezk-Karte zu spielen sucht, irgendeinen Vorwand sucht, um wenigstens dort einzumarschieren und sich zu stationieren wie in Südossetien, Transnistrien oder Abchasien. Bislang ist alles dort piratenhaft, also deswegen. Putin hat diesbezüglich nichts aushandeln oder erreichen können, hat in aller Weltöffentlichkeit seine Schwäche bloßgelegt. Also russisches Militär dort stationieren, die offizielle Anerkennung der dortigen kleinen Republiken, de facto also eine Erweiterung Russlands, Annexion. Russland unterhielte dann fünfmal eine kleine Westsahara, ein Ausdruck für den gescheiterten außenpolitischen Kurs. Im Grunde ist Putins langer italienischer Tisch, ein Erbstück Jelzins, ein Symbol gescheiterter Politik. Allerdings bleibt die Situation gefährlich, denn die Ukraine hat als ein großes Land natürlich anderes vor, will nicht zum Vasallen Moskaus heruntergedrückt werden. In Deutschland auffallend die verbreitete Unwissenheit zur Ukraine. Manche meinen gar, sie sei ein Konstrukt Hitlers und deutscher Rechter. Eine Mehrheit der Befragten in Deutschland lehnt eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ab. Die bessere Frage wäre die nach einer EU-Teilnahme.

19. Februar

Putin nun doch hinterhältig, wird jetzt Donezk und Lugansk „befreien“. Jetzt soll massenhaft nach Russland geflüchtet werden, Putin braucht die Bilder. Dann wird befreit, in die Ukraine eingerückt. Putin weiß, dass er militärisch nur die ukrainische Armee mattsetzen muss, der Westen wird nicht mehr eingreifen. Olaf Scholz sah wie ein cleverer Sieger aus, Putin schien geschlagen, aber das täuschte. Diesen listigen Zug hatte niemand gesehen, wieder ist der Westen wie 2014 übertölpelt. Allerdings klappen Putins Manöver nicht reibungslos, auch er hat viel Kraft verloren in den letzten Wochen. Dennoch wird er wohl den Angriff wagen, sonst müsste er bis nächstes Jahr warten. Putin nun wie Hitler, der die Tschechoslowakei zerlegte, von einer Resttschechei schwadronierte. So nun Putin, der die Ostukraine bis Odessa nach Russland haben will, wie er bereits 2014 sagte, sein Nowaja Rossija. Der Rest ist ihm weniger wichtig, soll nur lebensuntüchtig gemacht werden. Lviv würde er überhaupt dem Westen überlassen, so 90.000 Quadratkilometer, wie Österreich so groß, als Happen, an dem sich der Westen schadlos halten könnte. Putin weiß, dass er Donezk und Lugansk als abtrünnige Vasallenstaaten nicht ewig halten kann, er drängt jetzt auf die dauerhafte Lösung. Gegenüber Macron und Scholz spielte er Theater, jetzt zeigt er den kriegerischen Geist. Wie Hitler geriert er sich nach innen wie ein Friedensengel. Wir sind wieder bei Marx, der reaktionäre Einfluss Russlands, der mit militärischer Stärke gegen schwächere Gegner durchgesetzt wird. Umso überraschter schließlich die verheerende Niederlage Russlands im Fernen Osten 1904/05. Putin ein Geschöpf all dieser Widersprüchlichkeit, er geht mit Landkarten ins Bett. Arme Ukraine.

20. Februar

Die Parallelen zu 2014. Jetzt wieder die Situation am Ende der Winterspiele. Nichts liegt in der Ukraine vor, was ein militärisches Eingreifen überhaupt im Entferntesten rechtfertigen würde, nichts. Putin will die Ukraine als Geisel nehmen, wie ein Bankräuber oder Entführer. Erpresst werden soll vom Westen dafür Sicherheit. Die Friedensfreunde arbeiten jetzt mit Vorwarnzeiten und solchem Zeug. Atommacht, Kreml, die 1994 sich verpflichtete, die territoriale Integrität des Nachbarn einzuhalten. Bankräuber Putin. Wird der durchkommen? Wohl nicht, selbst China, so etwas wie der einzige Verbündete, den er international hat, pocht auf die territoriale Integrität der Ukraine. Putin bliebe nur das Ganze, ein Zerschnippeln kommt nicht in Frage. Der Westen hat alles abgesichert, Putin könnte lediglich in den Donbass. Um den geht es aber nicht, den hat er bereits. Also Kiew und die ganze Ukraine. Wie will er das anstellen? Er ist schachmattgesetzt, doch jetzt geht es darum, ihm einen Ausweg zu bieten, so dass er die Geisel wieder laufen lässt. Gespenstisch, wie 2014. Die deutschen Friedensfreunde berufen sich nun auf Genscher im Februar 1990, zusammen mit Baker, als sie im Fernsehen zusagten, die Nato nicht auf die anderen Warschauer Vertragsstaaten auszudehnen, ihnen ginge es nur um die DDR. Erstens war Moskau damals die Sowjetunion, nicht Russland! Zweitens ging es allein darum, keine weiteren Länder aus dem Moskauer Block herauszuholen, also zu vermeiden, Budapest 1956 zu wiederholen. Die Diskussion schiebt sich jetzt zusammen, also warten. Weiter suchen bei Rakowski und anderen. Dieses Bild trifft es: Putins Geisel.

21. Februar

Sahra Wagenknecht gestern bei Anne Will rhetorisch wie immer, aber inhaltlich eben wie die deutschen Friedensfreunde, also bei Putin unterm Sofa. Allerdings trifft sie einen Nerv der Deutschen, denn niemand wünscht jetzt einen Waffengang wegen der Ukraine. Würde Putin die Ukraine schlucken, wäre die Aufregung zunächst natürlich groß, doch dann würde die Haltung obsiegen, sie sollten es gefälligst selbst dort ausmachen, wie sie es haben wollen. Die anderen verstecken sich hinter starken Worten, Proamerikanismen und Geld. Als Wagenknecht allerdings behauptete, ihr sei Moskau näher als Washington, machte sie einen dummen Fehler.

22. Februar

Unterdessen Putin mit Rede ans russische Volk, in der er bestritt, dass die Ukrainer ein Recht besäßen, einen eigenen Staat zu haben. Völlig losgelöst der Mann, wütend und mit haltlosen Thesen. Er erkennt die abtrünnigen Volksrepubliken an. Was folgt wird die faktische Annexion eines weiteren Gebietes der Ukraine sein. Insgesamt hält Putin dann ein Gebiet fast so groß wie die Slowakei und mit sieben bis acht Millionen Menschen. Wird es Gegenwehr in Moskau geben? Sind die Militärs alle auf Putins Seite? Wer stoppt den Kreml-Herren! Der Vergleich zu Hitlers Vorgehen gegen die Tschechoslowakei liegt auf der Hand. Putin indes ist überzeugt, allein russisches Gebiet zu meinen.

23. Februar

Ansonsten zeigt sich die Welt geschockt vom Vorgehen Putins. Eine Palastrevolution ist ausgeschlossen, Putin hatte seinen Sicherheitsrat, zwei Dutzend Mitglieder, öffentlich antreten lassen, niemand soll sagen können, nicht mitgemacht zu haben. Noch ist es Krieg ohne Schlacht, doch die wird kommen, wenn Putins Soldaten den ganzen Donbass heimholen werden. Einstweilen hat er die selbsternannten Republiken. Die Reaktionen des Westens besser als bei der Krim 2014. Allerdings überrumpelt Putin den Westen dennoch, wenn er mit einer einzigen Unterschrift schlagartig die Grenzen ändert. Vieles mutet wie Hitlers Spiel gegen die Tschechoslowakei an, auch Putin wird nicht ruhen, bevor er die Ukraine zertrümmert weiß. Er schickte gestern Lawrow vor, der amtlich der Welt erklärte, das Regime in Kiew vertrete nicht die Gesamtbevölkerung in der Ukraine, habe auch kein Recht dazu. Sie drehen es, wie sie es benötigen. Putin schluckt die Donbass-Republiken, zeigt sich aber überfordert, sobald die Frage kommt, welche Grenzen er denn meine. Im Fernsehen am Montag wurde zuerst der Sicherheitsrat am Nachmittag gezeigt, dann Putins lange Rede, anschließend die Unterzeichnung der Dokumente für die abtrünnigen Gebiete. Tatsächlich wurde zuerst das Schlucken der Donbass-Region unterzeichnet, dann tanzte der Sicherheitsrat an, schließlich sprach Putin zum Volk. Wie in einer Filmbude also. Die Armbanduhren verraten die wirkliche Zeit, die Reihenfolge, wie sie tatsächlich erfolgte. Putin also auch als Propagandachef. Der Westen versucht nun, Druck gegen Putin aufzubauen. Die Amerikaner werden demonstrativer, werden jetzt erst richtig präsent an den Grenzen des Putin-Reichs. Die Deutschen und Franzosen suchen außerdem den Verhandlungsweg. Doch wird Putin einmal erobertes Gebiet nicht wieder rausrücken. Er wollte damals 2014 die Föderalisierung der Ukraine, behauptet jetzt frech, die hätte das illegitime Regime in Kiew verhindert, womit nun alle Möglichkeit zum Handeln ausgeschöpft sei. Putin auf dem Weg ins Aus.

24. Februar

Putin beginnt den Krieg, will die Ukraine in die Knie zwingen. Die weltweite Empörung ist gewaltig.