25. Jahrgang | Nummer 7 | 28. März 2022

Delhi, Tokio und die neue Weltordnung

von Peter Linke, Almaty

Verbunden durch universelle Werte wie Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sind Japan und Indien ‚spezielle strategische und globale Partner‘ mit gemeinsamen strategische Interessen.“ Honigsüß warb Japans Premier Fumio Kishida am Vorabend seiner ersten Indien-Visite um die Gunst seines Amtskollegen Narendra Modi. Auf den ersten Blick durchaus mit Erfolg: Japan wird in den kommenden fünf Jahren 5 Trillionen Yen (42 Milliarden USD) in die indische Wirtschaft investieren. Verträge über Cybersicherheit sowie eine Partnerschaft in Sachen saubere Energien wurden vereinbart. Außerdem Kreditabkommen für Projekte in den Bereichen Transport, Wasserwirtschaft, Gartenbau, Gesundheitsvorsorge und Artenvielfalt. Zügig zu Beratungen zusammenkommen sollen die Außen- und Verteidigungsminister beider Länder.

Nur in einem Punkt blieb Modi stur: Die Geschehnisse in der Ukraine wollte er partout nicht als „aggressiven russischen Akt“ bezeichnen. Während Kishida nach Abschluss der Gespräche „Russlands Aggression gegen die Ukraine“ als „sehr ernste Entwicklung“ bezeichnete, „die das Fundament der internationalen Ordnung erschüttert hat“, war in der gemeinsamen Abschlusserklärung nur zu lesen, dass beide Premierminister „ihre große Sorge bezüglich des anhaltenden Konflikts und der humanitären Krise in der Ukraine zum Ausdruck brachten und deren breitere Auswirkungen, insbesondere für die Indo-Pazifische Region, einschätzten […]“.

Auch wenn vor allem japanische Medien im Vorfeld des Besuchs trommelten, Kishida möge Modi bewegen, in Sachen Ukraine auf die gemeinsame Linie Japans, der USA und Europas einzuschwenken, kam dies nicht sonderlich überraschend, hatte doch Indien kurz zuvor in zwei UN-Resolutionen eine Verurteilung Russlands nicht mittragen wollte.

Und auch das war absehbar: Delhi hat seit Gründung der UNO immer wieder mit beziehungsweise für die Sowjetunion und in der Folge Russland gestimmt. Dies läge, so Nayanima Basu, am tiefsitzenden indischen Groll bezüglich der Rolle, die sowohl westliche Akteure als auch die UNO bei der Gewährleistung der nationalen Sicherheitsinteressen Delhis gespielt hätten. Egal ob es ich dabei um den Kaschmir-Konflikt (1948, 1957, 1962, 2019, 2020), die Goa/Daman/Diu-Problematik (1961) oder die Bangladesch-Frage (1971) handelte – stets konnte sich Delhi der Unterstützung durch Moskau sicher sein. Und Delhi revanchierte sich, indem es weder die Niederschlagung des ungarischen Aufstandes 1956, noch die Beendigung des Prager Frühlings 1968 lautstark kritisierte, nicht der Meinung war, dass Vietnam und die Sowjetunion 1979 einen „Aggressionskrieg gegen das kampucheanische Volk“ führten, sich bei der Verurteilung  des Einmarsches sowjetischer Truppen in Afghanistan 1979 in der UN-Vollversammlung als einziger nicht-paktgebundener Staat der Stimme enthielt. Dieser Linie bleibt es auch nach dem Zerfall der Sowjetunion treu: So votierte Indien 2008 gegen eine Resolution der UN-Vollversammlung, in der eine Rückkehrrecht für abchasische Flüchtlinge gefordert wurde, enthielt sich 2013 und 2016 bei Voten über die Politik Assads der Stimme. Und im Zusammenhang mit den Krim-Ereignissen 2014 erklärte der ehemalige indische Außenminister und damalige nationale Sicherheitsberater Shivshankar Menon, man habe es hier „mit legitimen Sicherheitsinteressen Russlands zu tun, die hoffentlich einer Lösung zugeführt werden“.

Für Delhi ein durchaus effektives Arrangement: gemeinsam mit Moskau gegen China und Pakistan. Dies umso mehr, als sich die Sowjetunion als überaus zuverlässiger Waffenlieferant erweisen sollte, was im Umgang mit der Konkurrenz durchaus als hilfreich erschien. Doch dann änderte sich der geopolitische Kontext. Für Russland war China nicht länger der große Feind. Und auch das Verhältnis zu Pakistan begann sich – nach einigem Hin und Her – merklich zu verbessern. All dies hat in jüngster Zeit zu einer deutlichen Annäherung zwischen Delhi und Washington geführt. Was bleibt ist ein wachsendes Unbehagen ob der neuen „Freundschaft“ zwischen Bär & Drachen sowie eine hohe und breite Abhängigkeit der indischen Streitkräfte von russischem militärischen Knowhow. Dass Indien durchaus gewillt ist, hier Abhilfe zu schaffen, haben nicht zuletzt die jüngsten russisch-indischen Gespräche über militärtechnische Kooperation mehr als deutlich gemacht.

Den Amerikanern scheint das indische Dilemma durchaus bewusst zu sein. Weder haben sie gegen Delhi Sanktionen wegen der Beschaffung des mobilen Flugabwehrsystems S-400 verhängt, noch es übermäßig für dessen „lasche“ Haltung in der Ukraine-Frage kritisiert. Indien wird eben gebraucht als ein wertvoller Eckstein in Washingtons neuer Anti-China-Containment-Architektur Quad. Aber all diese Wehrgüter, die S-400, die atomaren Trainings-U-Boote, Fregatten, Su-30, MiG-29 und AK-203-Sturmgewehre, über deren Lieferung beziehungsweise Lizenzproduktion sich Ende vergangenen Jahres nach langen zähen Verhandlungen verständigt wurde, wollen bezahlt werden. Wie das unter wachsendem Sanktionsdruck auf Russland, dem weitgehenden Ausschluss des Landes aus internationalen Zahlungsmechanismen (SWIFT) zu gewährleisten ist, bereitet indischen Finanzspezialisten zunehmend schlaflose Nächte. In diesem Zusammenhang erinnert man sich inzwischen an das in den 1970er Jahren eingeführte Rupee-Rubel-Handelsarrangement. Aber was, sollte es tatsächlich als alternatives Zahlungsinstrument funktionieren? Wird Washington auch dann noch Verständnis für Delhis Dilemma aufbringen?

Während Indien die hohe Abhängigkeit von russischer Waffentechnik zunehmend Kopfschmerz bereitet, ist es für Japan die nicht ganz unbeträchtliche Abhängigkeit von russischem Öl und Gas, die vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der Ukraine für einige Irritation zwischen Politik und Wirtschaft sorgt. Auch Indien muss Energieträger importieren: Bei Rohöl etwa beträgt der Anteil satte 85 Prozent. Die meisten Importe entfallen jedoch auf Westasien (Irak 23 %, Saudi-Arabien 18%, VAE 11%) beziehungsweise die USA (11%). In den russischen Energiesektor wird seit einigen Jahren zwar investiert (Stand 2021 – ca. 15 Mrd. USD) – Ölimporte aus Russland machen jedoch insgesamt weniger als 1 Prozent aus.

In Japan lag die Selbstversorgungsrate bei Energie im vergangen Jahr bei 11,2 Prozent. Die Abhängigkeit von Öl aus dem Nahen Osten ist erheblich (2019 – 88, 5 %). Der Anteil russischen Rohöls liegt bei gerade einmal 3,6 Prozent, der von Flüssigerdgas bei 8,8 Prozent (2021).

Aber Japan ist erheblich interessiert an der Erschließung russischer Öl und Gasvorkommen in Sibirien und dem Fernen Osten. So ist die Sakhalin Oil and Gas Development Co. (finanziert durch die japanische Regierung sowie die Handelshäuser Itochu und Marubeni) mit 30 Prozent am Projekt Sachalin 1 beteiligt, während die Handelshäuser Mitsui (12,5%) und Mitsubishi (10%) Anteile am Projekt Sachalin 2 halten. 2019 erwarben Mitsui sowie die Japan Oil, Gas, and Metals National Corporation mit Unterstützung der japanischen Regierung 10 Prozent der Anteile am küstennahen Flüssigerdgasprojekt Arctic 2. Darüber hinaus sind japanische Unternehmen wie Mitsui O.S.K. Lines an der Errichtung von Umschlagsanlagen für Flüssigerdgas im Murmansk und auf der Halbinsel Kamtschatka beteiligt.

Ein Verzicht auf russische Energieträger sowie die Teilhabe an russischen Schlüsselprojekten zur Förderung von Flüssigerdgas, wie es Washington von Japan fordert, warnt der ehemalige  Wirtschafts- und Industrieminister Hiroshige Seko, wäre glatter Selbstmord; aus Sachalin 1 & 2 auszusteigen, würde nur China in die Hände spielen. Zu ähnlichen Schussfolgerungen gelangen Mitsui und Mitsubishi, die inzwischen erklärt haben, an ihrer Beteiligung an Sachalin 2 unbedingt festhalten zu wollen: Nach Einschätzung der Japanischen Wirtschaftszeitung (Nikkei) sollen 60 Prozent der dort geförderten Gasmenge nach Japan exportiert werden, was Sachalin 2 zur wichtigsten japanischen Quelle für russisches Flüssigerdgas machen würde.

Ministerpräsident Kishida brauchte einige Zeit, um sich zu Sachalin 2 zu bekennen: Eine stabile Energieversorgung sei im „nationale Interessen“, so der Premier. Aber warum hat sich Japan dann vor einigen Tagen aus der Kofinanzierung des Megaprojekts Arctic 2 zurückgezogen? Und ist es wirklich im „nationalen japanischen Interesse“, Russland technologisch und finanztechnisch auszubremsen sowie die Gespräche mit Moskau über den Abschluss eines Friedensvertrages beziehungsweise eine Lösung der „Inselfrage“ vorsätzlich gegen die Wand zu fahren, indem man im Parlament erklärt, die Kurilen gehörten „inhärent“ zu Japan? Oder eben auch Indiens Premier „auf Linie“ zu bringen, obwohl es vielleicht sinnvoller wäre, gerade mit Delhi über innovative diplomatische Schritte gegenüber dem Kreml nachzudenken?

Sowohl in Indien als auch in Japan ist die Sorge groß, die wachsende Frontstellung zwischen Russland und dem Westen könnte Moskau noch stärker in Pekings Arme treiben. Delhi hat dies längst als strategische Herausforderung begriffen. Japan war unter Shintaro Abe diesbezüglich auf einem guten Weg: Japans proaktive Politik gegenüber Russland, so der Ex-Premier in der Zeitschrift Gaiko Forum Anfang vergangen Jahres, müsse vor dem Hintergrund der wachsender militärische Stärke Chinas in Ostasien gesehen werden. Daher sei es von strategischer Bedeutung, die Beziehungen mit Russland zu verbessern, um eine weitere Annäherung des Landes an China zu verhindern.

Trotz oder gerade wegen der aktuellen Entwicklungen tritt der Umbau des internationalen Staatensystems nicht auf der Stelle. Ganz im Gegenteil. C. Raja Mohan, einer der profiliertesten indischen Kommentatoren der Weltpolitik hat bereits fünf geopolitische Veränderungen infolge des russischen Kriegs in der Ukraine ausgemacht: 1. eine neue Dynamik im Dreieck der Großmächte, 2. die Vorrangstellung der USA unter den Großmächten, 3. die Disziplinierung Europas, 4. das Energie-Dilemma der EU, 5. die Anpassung Asiens an die neuen Verhältnisse.

Man muss mit dieser Sicht der Dinge nicht einverstanden sein – eine gute Diskussionsgrundlage bildet sie jedoch allemal.