25. Jahrgang | Nummer 6 | 14. März 2022

Überhangmandate

von Bernhard Mankwald

Der Bundestag, der im September 2021 gewählt wurde, überschreitet mit der Zahl seiner Abgeordneten das Plansoll um fast ein Viertel. Die Formel für diesen Wildwuchs folgt einer eigenen Logik: Da nur noch drei Überhangmandate erlaubt sind, müssen weitere 31 überzählige Mandate, die sich aus dem Wahlverfahren ergeben haben, kompensiert werden. Dazu sind wiederum 104 Ausgleichsmandate erforderlich. Den Nutzen davon hat eine Regionalpartei, die sich auch sehr gerne in Bundesangelegenheiten einmischt.

In der ersten Volksvertretung der Bundesrepublik waren die Parteien zahlreich und die Mehrheiten knapp – so knapp, dass bei der Wahl Konrad Adenauers zum Bundeskanzler, die sich als Weichenstellung für die kommenden Jahre erweisen sollte, gerade einmal die notwendige absolute Mehrheit erzielt wurde.

Den vielen kleineren Parteien wurde das Leben bald durch eine Sperrklausel schwer gemacht: Ab 1953 mussten sie bundesweit mindestens 5 Prozent der gültigen Stimmen erzielen, um überhaupt im Parlament vertreten zu sein. Dies wurde aber auch Parteien zugestanden, deren Kandidaten Direktmandate errungen hatten.

Von diesen Regelungen profitierte vor allem Adenauers CDU: Sie konnte kleineren Parteien, die noch als Koalitionspartner gebraucht wurden, zum Einzug ins Parlament verhelfen, indem sie in einzelnen Wahlkreisen, in denen diese Parteien stark vertreten waren, auf eigene Kandidaten verzichtete. Eine derart prekäre Existenz ließ offenbar in verschiedenen Ministern aus diesem Milieu die Überzeugung reifen, dass ein Wechsel zur CDU ihrer weiteren Berufsperspektive nur nützlich sein könnte. Ohne ihre prominentesten Politiker hatten die Kleinparteien natürlich bei der nächsten Wahl erst recht keine Chance mehr.

Adenauer versuchte das skizzierte Verfahren auch bei der FDP anzuwenden. Als zusätzlicher Hebel diente das Projekt eines „Grabenwahlsystems“, bei dem die Direktmandate nicht mehr auf die Plätze angerechnet werden sollten. Der Versuch führte zu einer Spaltung der FDP, die die Koalition verließ, während die Minister auf den Kabinettssesseln verharrten und eine – sehr kurzlebige – eigene Partei gründeten.

Die 1966 gebildete große Koalition aus CDU, CSU und SPD schließlich zählte zu ihren Zielen auch ein „mehrheitsbildendes Wahlrecht“. Hierzu waren verschiedene Pläne im Umlauf, die allesamt auf eine Hürde von mindestens zwanzig Prozent hinausgelaufen wären. In der SPD reifte aber allmählich die Erkenntnis, dass ein solcher Schritt zu einem Zweiparteiensystem ihr wohl dauerhaft die Rolle der Opposition zugewiesen hätte.

Die FDP reagierte in beiden Fällen auf derartige Versuche mit einer Annäherung an die SPD und ging mit ihr auf Ebene der Länder, in Nordrhein-Westfalen und anderswo, Koalitionen ein. Auf Bundesebene bildeten schließlich Willy Brandt und Walter Scheel ebenfalls eine Koalitionsregierung, die gegen erbitterten Widerstand eine neue Ostpolitik betrieb und auch in der Innenpolitik echte Reformen durchsetzte. So wurde das Volljährigkeitsalter auf 18 Jahre herabgesetzt, bisherige Straftatbestände wie etwa Kuppelei wurden abgeschafft. – All das war übrigens nur deshalb möglich, weil die FDP bei der Wahl 1969 das Soll von fünf Prozent der gültigen Stimmen recht knapp erfüllte – und die NPD noch knapper daran scheiterte.

Das Wahlrecht blieb also im Grundsatz so, wie es war, und selbst CDU und CSU gewöhnten sich allmählich daran, zumal eine erneute Wendung der FDP im Jahr 1982 Helmut Kohl nach langem Warten doch noch ins Kanzleramt brachte. Dessen Regierungsstil stieß nach einigen Jahren selbst in der eigenen Partei auf Widerstand. Da bot ihm die Entwicklung in der DDR Anfang 1990 eine Chance, die er nutzte. In meinem Buch „Die Diktatur der Sekretäre“ (2006) beschrieb ich das so: „Bundeskanzler Kohl betätigte sich unverfroren als Wahlkämpfer; bei seinen Auftritten in der DDR war bald weniger von Freiheit als von D-Mark die Rede. Die bisherige inoffizielle Zweitwährung erwies sich als wirksames Lockmittel nicht für alle, aber für eine hinreichende Mehrheit der DDR-Bürger: Die umgehend von CDU und FDP vereinnahmten Blockparteien gewannen bei den Wahlen eine knappe Mehrheit, während die neugegründete Sozialdemokratische Partei, die sich schon als Wahlsieger gesehen hatte, nicht einmal ein Viertel der Stimmen erhielt. Kohl hatte damit die richtigen Verhandlungspartner – oder Befehlsempfänger – um den Anschluss der DDR innerhalb weniger Monate über die Bühne zu bringen.“

Flankiert wurde dieser Erfolg durch sachdienliche Maßnahmen im Bereich des Wahlrechts: Bei der Bundestagswahl 1990 galt eine einmalige Sonderregelung, nach der es genügte, in einem der Wahlgebiete – „West“ oder „Ost“ – über 5 Prozent zu kommen. Den Grünen, bei denen der Einigungsprozess naturgemäß am längsten dauerte, misslang das im Westen, während die PDS in beiden Landesteilen vertreten war, im Westen allerdings nur mit einer Abgeordneten.

Mit dieser Wahl begann auch die Wucherung der Überhangmandate, die zugeteilt werden, wenn eine Partei mehr Direktmandate erringt als ihr nach den Zweitstimmen zustehen. Zu Adenauers Zeit mit ihrer zeitweise absoluten Mehrheit für die Union kam es dazu nur in seltenen Fällen. In Zeiten, in denen sie nicht einmal mehr ein Viertel der Stimmen auf sich vereint, aber immer noch fast in jedem zweiten Wahlkreis stärkste Partei ist, wird das zum Massenphänomen – und den Nutzen haben in der Regel diejenigen, die das Wahlgesetz einst für die eigenen Bedürfnisse maßgeschneidert haben.

Die Verzerrungen, die durch diese Regelung entstanden, haben wiederholt das Bundesverfassungsgericht beschäftigt. Seit der Wahl 2013 werden Überhangmandate ausgeglichen, was zur eingangs erwähnten Aufblähung des Bundestags führt. Um ihre Zahl in Grenzen zu halten, wurden bei der Wahl 2021 Überhangmandate in einem Land nach einem sehr komplizierten Verfahren mit Ausgleichsmandaten verrechnet, die anderen Landeslisten zustehen. Die CSU, die nur eine einzige Landesliste hat, ist von dieser Regelung nicht betroffen; die drei Überhangmandate, die diesmal doch wieder zulässig waren, steckt deshalb selbstverständlich sie ein. Die zusätzlichen Kosten dagegen (etwa die Reisekosten für fast 300 überzählige Mitglieder der Bundesversammlung zur Wahl des Präsidenten) trägt die Allgemeinheit. Es liegt daher im Interesse aller anderen Parteien, dieses kostspielige und undemokratische Privileg abzuschaffen.