25. Jahrgang | Nummer 5 | 28. Februar 2022

Zu den Wurzeln der Weltkultur

von Wolfgang Brauer

Dieses Buch ist ein atemberaubendes Werk, das auch Nicht-Spezialisten für die Kulturen des Orients in seinen Bann nimmt. Eigentlich ist es „nur“ der Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung iranischer Kunst, die noch bis zum 20. März 2022 auf der Berliner Museumsinsel zu sehen ist. Tatsächlich handelt es sich um eine Gesamtschau von 5000 Jahren Kulturentwicklung der Region zwischen den Hängen des Zagros-Gebirges und den Gebirgsketten Afghanistans, zwischen Persischem Golf und Arabischem Meer sowie dem Kaspischen Meer und dem Kaukasus. Zum Erfassen der geografischen Dimensionen lohnt der Griff zum Atlas …

Der Griff zum Handwörterbuch der Weltgeschichte lohnt nicht. Das oberflächliche europäische Geschichtsbild erinnert zumeist an eine Abfolge von barbarischen Reichen, die immer wieder der Zerstörung anheimfielen. Was uns bemerkenswert erscheint, wird hingegen gerne in die europäische Kulturtradition gepresst.

Im vorliegenden Band verweist Wouter F. M. Henkelmann auf die Kontinuität von Herrschaft und Kultur in der Region. Kyros, der Begründer des Perserreiches, setzt sich bewusst in die Nachfolge der Könige von Elam, die wiederum sehen sich als Erben des frühen 2. Jahrtausends und die Herrscher dieser Zeit betrachten sich als Erben einer langen Abfolge von 24 Königen aus den Dynastien „Awan“ und „Schimaschki“. Das darf man Geschichtsbewusstsein nennen …

Die heutige Ruinenstadt Susa in Chuzestan war 5500 Jahre ununterbrochen bewohnt. Im Reich von Elam entwickelten sich komplexe Machtstrukturen, verbunden mit einer Schriftkultur bereits um 2100 v.u.Z. Leider sind wir für diese Zeit überwiegend auf archäologische Befunde angewiesen. Die Seuche der Raubgräber und der sie verursachende Kunsthandel wirken unheilvoll. Der Band bietet eindrucksvolle Beispiele der Archäologiegeschichte jenseits von Troja, Luxor und Mykene. Die Bemühungen Robert Dysons um das 800 v.u.Z. zerstörte Hasanlu werden ebenso geschildert wie die Grabungen von Ezzatollah Negahban, dem Begründer der iranischen Archäologie, in Marlik am Kaspischen Meer.

In gänzlichem Gegensatz zur griechisch-römisch geprägten europäischen Geschichtserzählung stehen die Darstellungen des Reiches der Achämeniden – das sind die „klassischen“ Perser von Marathon und Salamis – 550 bis 330 v.u.Z., immerhin das erste Weltreich der Geschichte mit einer Ausdehnung vom Syr-Darja bis zu den Rhodopen und der Libyschen Wüste. Nicht minder überraschend der Überblick über die Kulturleistungen der Parther (247 v.u.Z. bis 224 u.Z.). Auch hier trübt der römische Blick unser Bild des Reiches hinter dem Euphrat. Sicher gab es kriegerische Auseinandersetzungen, aber es überwogen wohl die ökonomischen und kulturellen Beziehungen. Die Parther waren Roms Scharnier zum China der Han-Dynastie. Mit Rom teilten sie auch „das Interese an einer Kontrolle der Steppenvölker, die für West wie Ost gefährlich werden konnten“ (Josef Wiesehöfer).

Mit dem Reich der Sasaniden (224–651 u.Z.) entstand mit dem Untergang der Parther ein Rom gleichrangiges Weltreich. Auch hier fehlt uns außer Verwaltungstexten die schriftliche Überlieferung, daher dominierte bislang bei uns wieder die „römische“ Sicht. Wir sehen dieses Reich hauptsächlich als „Randkultur“, als Gegenspieler Roms abseits der „Zivilisationsgeschichte“. Wiesehöfer bedauert die daraus erwachsene Gleichgültigkeit dieser Epoche gegenüber: „Die Geschichte der beiden Reiche sitzt gleichsam zwischen den Stühlen ‚Alter Orient‘ und ‚Muslimische Welt‘. Dabei böte die Beschäftigung mit ihr die Gelegenheit, nicht nur den eurozentrischen Blick auf die Geschichte Eurasiens zu überwinden, sondern auch die vielfache Vernetzung der antiken Kulturen in diesen Räumen aufzuzeigen.“

Das Katalogbuch zeigt kunstvolle sasanidische Silberarbeiten von höchster handwerklicher Qualität. Die produktive Aufnahme unterschiedlichster Kulturtraditionen belegt zum Beispiel eine 24 cm im Durchmesser umfassende Silberschale aus dem späten 5./frühen 6. Jahrhundert. Angefertigt im Ost-Iran zeigt sie in der Mitte die indische Göttin Hariti auf einem Löwenthron. Hariti ist die Beschützerin der Kinder. Über ihr schwebt das in der griechisch-römischen Mythologie beheimatete Paar Helios und Selene, unter ihr ruhen der indische Gott Schiwa und dessen Gattin Parvati. Im am linken Schalenrand stehenden Widderträger sieht Michele Minardi sogar frühchristliche Anklänge an das Sujet des „guten Hirten“.

In den 30er Jahren des 7. Jahrhunderts begann die Eroberung und Zerschlagung des Sasanidenreiches durch die arabischen Kalifen. 651 wird der letzte Sasanidenschah ermordet – ansonsten erfolgt die arabisch-muslimische Eroberung mit vergleichsweise geringem Blutvergießen. Auch der Iran wird als Teil des gewaltigen Abbasidenreiches islamisiert. Im 10. Jahrhundert aber wird er durch Dynastien, die aus diversen Militärkasten erwuchsen – wir würden heute von „Warlords“ sprechen –, von der arabischen Welt abgespalten. Religiös erfolgt eine stärkere Hinwendung zur islamischen Orthodoxie und kulturell ist in dieser Krisenzeit eine „iranische Renaissance“, die bis zum frühen 11. Jahrhundert andauert, zu registrieren. Das Katalogbuch führt beeindruckende Silberarbeiten und Keramiken an. Spannend ist die Darstellung der aufblühenden Kultur der städtischen Eliten entlang der Seidenstraße.

Die bereits angesprochene „Teilung der islamischen Welt in Ost und West“ befestigt sich endgültig mit dem Herrschaftsantritt der Seldschuken, die 1055 Bagdad erobern. Damit treten für einige Jahrzehnte Clans nomadischer Turkvölker die Herrschaft über die Region an. Die erscheint von außen gefestigt, gerät im Inneren aber von einer Krise in die andere und kann den Einfällen von Nomadenvölkern aus dem Osten nichts mehr entgegensetzen. Dennoch hatte sich „für die Bevölkerung im Alltag anscheinend wenig“ geändert, stellt Oliver Watson in seinem Beitrag fest. „Offenbar genoß sie soviel Reichtum und Stabilität, dass die Produktion urbaner Luxusgüter und deren Handel mit anderen Zentren in Iran florierte.“ Der Band dokumentiert wundervolle Werke der Kaschan-Keramik des 13. Jahrhunderts.

Ab 1217 verwüsten die Heere Dschingis Khans die gesamte iranische Welt. Höhepunkt war die Eroberung und Auslöschung Bagdads (1258). Die Mongolen richten auf ihrem Zerstörungsfeldzug eine ökologische Katastrophe an, die bis heute nachwirkt. „Die Verluste an Menschenleben kamen einem Völkermord gleich“, schreibt Robert Hillenbrand. Zugleich verweist er auf die historisch einmaligen Dimensionen des von Dschingis Khan und seinen Erben errichteten Weltreiches. Es umfasste vom Japanischen Meer bis zur Ostgrenze des römisch-deutschen Reiches den größten Teil der eurasischen Landmasse.

Als dieses Großreich ab 1260 wieder zerfiel, entstanden im Laufe des 14. Jahhunderts die bis heute bestehenden Grundkonturen der asiatischen Staatenwelt. Von daher kommt auch eine tief wurzelnde kulturelle Prägung, die in ihren Urgründen bis auf die Zeit der Abbasiden und Seldschuken zurückgreift und von erstaunlicher Überlebenskraft ist. Diese zu ignorieren und durch aufgestülpte „westliche Werte“ ersetzen zu wollen, muss zwangsläufig scheitern. Das in den letzten 30 Jahren erlittene Fiasko des Westens im Mittleren Osten ist kein Zufall. „Wie so oft stellte auch hier der kulturelle Sieg letztlich die militärische Niederlage in den Schatten“, urteilt Hillenbrand über die Entwicklungen in der Region nach dem Sieg der mongolischen Heere.

An signifikanten Beispielen seien hier nur Firdausis „Buch der Könige“ – das zwischen 977 und 1010 entstandene Epos sollte zu einem der wichtigsten Überlieferer der iranischen Kultur werden – und die bedeutenden Schöpfungen der „timuridischen Renaissance“ des 15. Jahrhunderts genannt. Ausgerechnet die Nachfahren des Blutsäufers Timur (Tamerlan) bescheren seinem rasch wieder zerfallenden Reich eine kulturelle und wissenschaftliche Blüte unerhörten Ausmaßes. Als Orientierungsorte seien das usbekische Samarkand und das iranische Herat erwähnt. In dieser Zeit setzt die klassische Phase der persischen Literatur (und Buchmalerei!) ein. Die Autoren weisen völlig zu recht auf den erheblichen Einfluss der chinesischen Kunst – vor allem in der Keramik – hin.

1501 begründet Schah Ismail die Dynastie der Safawiden (bis 1722). Die Safawiden trugen entscheidend zur Grundlegung des heutigen Iran bei. Sie zentralisieren das Land, setzen das Persische als Sprache der Hochkultur durch und sorgen dafür, dass die Zwölfer-Schia (das Schiitentum) zur bis heute nicht nur die Politik, die Religion und Kultur, sondern de facto alle Lebensbereiche prägenden Richtung des Islam wird. Für die Safawiden-Schahs – sie fungierten in ihrer religiösen Rolle bis zu dessen Rückkehr als Stellvertreter des „verborgenen Imams“ auf Erden – brachte das zunächst Probleme mit den geistlichen Würdenträgern mit sich. Spätestens mit der Umgestaltung Isfahans zur neuen Hauptstadt Irans durch Abbas I. am Ende des 16. Jahrhunderts war das aber auch geklärt.

An diesem Punkt beendet das beeindruckende Katalogwerk seinen Gang durch 5000 Jahre Kunst und Kultur. Der Band wirft ein Vorurteil nach dem anderen über den Haufen. Er verführt – nicht zuletzt durch seine vorbildliche buchkünstlerische Ausstattung – zu weiterer vertiefender Auseinandersetzung mit einem konstituierenden Baustein der Menschheitskultur. Und – das sei hier nachdrücklich angemerkt – er provoziert nachdrückliche Zweifel an der gegenwärtigen Ausrichtung der westlichen Politik dieser Region gegenüber.

Ute Franke / Ina Sarikhani Sandmann / Stefan Weber (Hrsg.): Iran. Kunst und Kultur aus fünf Jahrtausenden, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz / Hirmer Verlag, Berlin und München 2021, 396 Seiten, 49,90 Euro.