25. Jahrgang | Nummer 4 | 14. Februar 2022

Von Bürgermeistern und Tuis

von Bruni Butzke

Bürgermeister werden in Brandenburg seit 1993 direkt von den Bürgern gewählt und nicht vom Stadtrat oder Gemeinderat; analog seit 2010 auch die Landräte. In den selbständigen Gemeinden werden die Bürgermeister auf die Dauer von acht Jahren gewählt. Es gibt zugleich Mechanismen der Abwahl und dann Neuwahl von Bürgermeistern. Dennoch ist konstitutiv, dass es eine eigene Legitimität des Bürgermeisters gegenüber der jeweiligen Gemeindevertretung gibt – was oft anhaltende Streitigkeiten um Kompetenzen und unterschiedliche Sachfragen zur Folge hat, womit sich dann die Bürgermeister, die Verwaltungen, die Gemeindevertreter und die Bürger oft wochen- und monatelang beschäftigen.

Eines der offenbar bleibenden Ergebnisse dieser Entwicklung ist, dass die üblichen politischen Parteien dabei immer weniger eine Rolle spielen. Sucht man im Internet nach den Brandenburgischen Bürgermeistern, so liest man, die meisten sind parteilos und über irgendwelche örtlichen Bündnisse, oft auf Liste: „Freiwillige Feuerwehr“, aufgestellt und dann gewählt worden. Arne Raue, parteiloser Bürgermeister von Jüterbog auf einer Liste „Wir sind Jüterbog“, ist gelernter Baufacharbeiter und hat nachwendig Diplomverwaltungswirt studiert. Er wurde 2019 bereits im ersten Wahlgang mit über 56 Prozent der abgegebenen Stimmen für eine weitere Amtszeit von acht Jahren wiedergewählt, obwohl er während seiner vorherigen Amtszeit wegen „fremdenfeindlicher“ Bekundungen, „Missachtung der Presse“ (weil er sich weigerte, einer Potsdamer Zeitung Fragen zu beantworten) und selbstherrlicher Benutzung der Webseite der Stadt als „umstritten“ eingestuft worden war.

Am 31. Januar hatte Raue in Jüterbog vor gegen die Corona-Maßnahmen demonstrierenden Bürgern gesprochen. Dort war auch ein Großplakat der NPD gezeigt worden. Nachdem ihm vorgehalten wurde, er hätte deshalb die Rede abbrechen müssen, entgegnete Raue: „Ich kommentiere hier heute nicht jedes Großbanner.“ In seiner Rede auf dem Jüterboger Marktplatz sagte er zu den Demonstranten: „Ich habe gesehen, dass ihr eure demokratischen Grundrechte wahrnehmt.“ Und weiter: „Ich sehe genau in die Gesichter und sehe, dass hier Bürgerinnen und Bürger, dass hier Demokraten unterwegs sind.“ Hier seien diejenigen unterwegs, „die ihre demokratischen Grundrechte kennen und wahrnehmen, die vielleicht auch noch an 1989 Erinnerungen haben“. Kurz: der Bürgermeister entscheidet, wer in Jüterbog Demokrat ist, und nicht die aufgeregte Presse in Potsdam. 

Raue in Jüterbog ist gewiss nur Episode. Dennoch sind hier drei Aspekte von Bedeutung: Erstens, die in den Medien und von der politischen Konkurrenz geltend gemachte Skandalisierung, dass auch „Rechte“ an der Demonstration teilgenommen haben, beeindruckt weder die Mehrheit der Demonstranten noch Politiker wie Raue. Zweitens weigert sich ein beträchtlicher Teil der ostdeutschen Bevölkerung immer stärker zu akzeptieren, dass die westdeutschen Institutionen und die einstige selbsternannte „DDR-Opposition“ darüber entscheiden, wer sich auf „1989“ berufen darf. Drittens zeigt sich, dass Leute wie Raue eine größere politische Unabhängigkeit haben als parteipolitische Kader. 

Der gewiss äußerst erfolgreiche grüne Tübinger Bürgermeister Boris Palmer ist seit 2006 im Amt und tritt jetzt für eine dritte Amtsperiode an. Der Streit um Äußerungen, die als nicht politisch korrekt gelten, und um ein Parteiausschlussverfahren des grünen Landesverbandes gegen Palmer hat zur Folge, dass er voraussichtlich als Unabhängiger antritt. Die Grünen können dann nur verlieren, egal, ob er es wieder schafft oder nicht. So etwas kann parteilosen Bürgermeistern in Brandenburg nicht passieren, weil die disziplinierende Funktion der Parteibindung wegfällt. Wer Raue aus dem Amt treiben will, muss ein Abwahlverfahren der Bürger gegen den Bürgermeister einleiten, bei dem eine relevante Mehrheit der Wähler gegen ihn stimmt. Das scheint angesichts der Sachlage eher unwahrscheinlich. Und Parteigremien als Disziplinierungselement spielen hier keine Rolle. Insofern verschafft die immer größere Zahl parteiloser Bürgermeister diesen eine wachsende Handlungsfreiheit, die parteigebundene nicht haben. Vielleicht sollte man dies als eine Antwort der Ostdeutschen auf das übergestülpte westdeutsche Parteiensystem ansehen.

An jenem 31. Januar hatten nach Angaben der Polizeibehörden etwa 300.000 Menschen bundesweit gegen die Corona-Maßnahmen protestiert. Das vermerke ich jetzt unabhängig davon, dass ich alle Proteste gegen Corona/-politik für abseitig halte. Aus welchen vernünftigen Gründen sollte man gegen eine Seuche und deren Bekämpfung protestieren? Aber als politischer und demokratiesoziologischer Vorgang ist das durchaus interessant. Mehr noch, dass die Behörden und die staatstragenden Medien nach wie vor nicht damit umzugehen wissen. Zeitweilig war die Rede von einer „Spaltung“ der Gesellschaft. Dann wurde das Argument wieder aus dem Verkehr gezogen, das sei nur eine „Minderheit“. Aber nach wie vor eine, die die Gemüter bewegt. Dann wurde behauptet, dort seien auch „Rechte“, deshalb dürfe der „anständige“ Bürger dort nicht hingehen. Das Beispiel Jüterbog zeigt, das interessiert immer weniger Leute und auch immer weniger Politiker, sofern sie parteipolitische Rücksichten nicht nehmen müssen.

Dann wurde die Organisationsweise zu skandalisieren versucht. Hier muss man gerechterweise erinnern, dass die „Querdenker“ ihre Demonstrationen zunächst stets deutsch-brav angemeldet hatten. Nach einiger Zeit wurden die in aller Regel präventiv verboten, weil man meinte, Gesetzesverstöße erwarten zu müssen. So etwas ist im Grundgesetz beim Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit jedoch nicht vorgesehen. Später wurden die Demonstrationen als „Spaziergänge“ organisiert, was vom „Flashmob“ herkommt, der ursprünglich nicht politisch gedacht war, und später von linken Aktivisten praktiziert wurde. So werden Organisationserfahrungen weitergereicht.

In Bertolt Brechts „Turandot oder der Kongress der Weißwäscher“ ist der Tui der Rechtfertiger und Bemäntler der tatsächlichen Macht, der im Interesse der Herrschenden abgerichtet wurde. Heute wechselt die tuimäßige Sozialwissenschaft ihre Erklärungsmuster schneller als Raue sein Hemd. So wurde im Herbst 2021 allenthalben statistisch argumentiert: im europäischen Vergleich sei die Impfquote am niedrigsten im deutschsprachigen Bereich um die Alpen herum, also in Süddeutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz. Behende wurden Rudolf Steiner und die Anthroposophie dafür verantwortlich gemacht. Die hätten einen okkulten Blick auf die Welt propagiert und würden Impfungen als Störung des Karmas ansehen. Man muss dieses esoterische Geschwätz nicht verteidigen, aber Impfgegner formierten sich auch in Gegenden, wo die Quote der Waldorfschüler traditionell eher niedrig ist.

Im Januar nun wurden neue „Erkenntnisse“ in die Welt gesetzt, wonach die „Einsamkeit“ verantwortlich sei. Der „kulturelle Treibstoff“ für die Querdenkerei sei Einsamkeit. Während früher der Alltag noch durch „Großfamilie, Firma, Nachbarschaft, Kirche und Gewerkschaften geprägt war“, würden die Menschen heute an ihren „Privatideologien“ basteln. Auch Sahra Wagenknechts Impfgegnerschaft hänge damit zusammen, dass sie schon in der DDR eher zurückgezogen lebte. Die Menschen würden an einem „Mangel an Zusammenhalt leiden“, und deshalb würden sie „solidarischen Lösungen“ eine Absage erteilen, in der Flüchtlingskrise wie in der Corona-Krise. Aber ist nicht die Ich-Gesellschaft das Ideal des neoliberalen Kapitalismus? Dort ist „Solidarität“ nicht vorgesehen. Aber das kapiert der Tui nicht. Weshalb er weder die Protestpotentiale in der Gesellschaft noch deren Bürgermeister versteht.