25. Jahrgang | Nummer 4 | 14. Februar 2022

Freiheit die ich meine

von Stephan Wohanka

Selten wurde mehr über Freiheit gesprochen und vor allem gestritten als gegenwärtig. Und zwar in einem eher flachen Zusammenhang – der Freiheit, sich nicht impfen lassen zu müssen. In Kommentaren und im Feuilleton ist viel Druckerschwärze darauf verwandt worden, den Freiheitsbegriff, den die Impfgegner für sich in Anspruch nehmen, auszumachen. Kann es nicht auch eine Freiheit geben, sich impfen zu lassen?

Die Freiheit und die Freiheitsrechte genießen im Grundgesetz einen hohen Wert. In Artikel 2 heißt es: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Auf diese Passage rekurriert die Minderheit der Impfgegner und das ist auch unstrittig ihr „gutes Recht“. Genau aus diesem Grund existiert das Grundgesetz mit seinen Freiheitsrechten: Damit keine Mehrheit ohne Legitimation über die Minderheit bestimmen kann.

Die Impfpflicht dient neben dem Eigenschutz der Fürsorge von Leben und Gesundheit der Bevölkerung und dem Zweck, das öffentliche Gesundheitswesen vor Überlastung zu schützen. So ist die Bekämpfung des Coronavirus ein Konflikt zwischen hoch- und höchstwertigen Interessen von Verfassungsrang: Auf der einen Seite stehen die individuellen Freiheitsrechte der Bürger, auf der anderen der Lebens- und Gesundheitsschutz, der ebenfalls jeden Einzelnen von uns betrifft; und das bei einem ständigen Abwägungsprozess zwischen beiden bei sich ändernden Sach- und Erkenntnislagen. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang einmal von der „Freiheit zur Krankheit“ gesprochen; der Philosoph Peter Sloterdijk fasst es so: „Für meine Gesundheit kann ich alleine sorgen. Leute mit solch einer Haltung, davon sind sehr viele im letzten Jahr verstorben. Das sind sozusagen Übermutstote“.

Ohne hier den abwegigen Versuch unternehmen zu wollen, den Begriff der Freiheit in der europäischen oder auch nur deutschen Geistes- und Ideengeschichte in seinen Überlieferungen nachzuzeichnen, gilt zumindest: Er ist nicht nur ständigen Debatten und somit einem permanenten Wandel unterworfen, sondern hat rechtliche und somit politische Abmessungen, aber auch soziale, kulturelle, religiöse; kein Denker von Rang, der nicht von ihm fasziniert gewesen wäre.

Desgleichen kann als ausgemacht stehen, dass Vernunft und Freiheit im Sinne von Befreiung engstens verquickt sind. Ein Hauptmotiv menschlicher Forschung lag und liegt darin, den Menschen durch eigenes Denken von Natur(gewalten) und (religiösen) Aberglauben zu befreien. Der kritische Maßstab, das Ideal dafür war und ist eine freie Gesellschaft emanzipierter Individuen; die Aufklärung betonte die Idee der Freiheit.

Inzwischen mussten wir lernen, dass „die Freiheit von der Natur“ nur eine bedingte ist; wir hängen von ihr sowie auch von anderen Lebewesen ab. Das Corona-Virus macht uns dies ziemlich  brachial deutlich – Naturräume können nicht unbedenklich und ohne Gefahr für menschliches Leben in Kulturräume verwandelt werden. Auch ist der Freiheitsbegriff durch die über Jahrzehnte ausgeprägte neoliberal-ökonomistische Denkweise (zu) eng an das private Eigentumsrecht gebunden, was ausmacht, dass Freiheit (zu) häufig als Recht an einer Sache oder auf eine Leistung missverstanden wurde und wird. Unterschlagen wird damit die Unfreiheit derjenigen, die davon ausgeschlossen wären.

Es ist desgleichen an der Zeit, sich in den intellektuellen Milieus von radikal-konstruktivistischen Ideen und Spielereien postmodernen, relativistischen Denkens zu verabschieden. Auch ich bekenne, zu sehr dem „anything goes“ angehangen zu haben. Zwar wird „Wahrheit“ nicht einfach zur Wahrheit und Gewissheit; es geht aber schon darum, wieder Wahrheit im Sinne von erprobtem, wissenschaftsbasiertem Wissen im öffentlichen Raum zu verbreiten, unabhängig von erkenntnistheoretischen Fundamentalfragen. Der Zusammenhang zur Freiheit besteht darin, dass nur derartiges „wahres“ Wissen Fundament von Freiheit sein kann; Obskurantismus, Leugnung der Wissenschaft oder eben überzogener Relativismus unterhöhlen Wissen und Freiheit.

Fasse ich Bisheriges zusammen, so kommt heraus: Freiheit ist stets bedingte Freiheit! Bedingtheit von der Natur, von der Gesellschaft, vom Wissen. Erst die Anerkennung dieses Bedingtseins macht frei! Hinzukommt, dass die freie Willensentscheidung des Menschen noch durch seine biografischen und biologischen Hintergründe, seine Möglichkeiten, Fähigkeiten und Mittel, bedingt ist. Unbedingte Freiheit ist wohl auch aus noch einem anderen Grund unmöglich; der Mensch wäre nicht nur zu jeder Planung, Verabredung, pah jedweder Tätigkeit oder Vorhaben unfähig – diese sind immer an Voraussetzungen gebunden: Ein Spaziergang setzte einen Weg voraus, ein Kinobesuch ein Lichtspielhaus und so fort.

Nach Isaiah Berlin, der wiederum auf andere Theoretiker zugreift, hat Freiheit einen doppelten Charakter; er unterscheidet negative Freiheit von positiver Freiheit. Negative Freiheit bezeichnet als „Freiheit von …“ allgemein das Freisein von äußeren Zwängen, nicht Bedingtheiten; und so ist auch weitgehend das „landläufige“ Verständnis von Freiheit: Man ist frei von Reglementierungen, Eingriffen ins Persönliche durch Regierung oder Gesellschaft, keine von anderen Menschen ausgehenden Zwänge erschweren oder verhindern gar das eigene Verhalten. Sie erscheint als natürliches Recht; man darf „nein“ sagen. Das ist die Freiheit der Impfgegner.

Von dieser unterschieden wird die positive Freiheit, als „Freiheit zu …“ gefasst. Sie bezeichnet einen Zustand der Freiheit, in dem das Freisein Möglichkeiten, Optionen eröffnet, Dinge zu tun; oder nach noch weitergehender Auffassung einen Zustand, in dem diese Möglichkeiten auch tatsächlich genutzt werden. Nicht selten wird der positiven Freiheit ein totalitäres Potential zugeschrieben, da sie als Wegweiser zu einem bestimmten Lebensstil, als „Vorschrift“ zu bestimmten Verhaltensweise (miss)verstanden wird.

Eingangs fragte ich, ob es nicht auch eine Freiheit gäbe, sich impfen zu lassen? Aristoteles schrieb in seiner Nikomachischen Ethik: „[…] darf als freiwillig das gelten, dessen bewegendes Prinzip in dem Handelnden selbst liegt, wobei er ein volles Wissen von den Einzelumständen der Handlungen hat“. Und das ist meine Freiheit! Mich impfen zu lassen. Mein Freisein liegt darin, in Kenntnis des „vollen Wissens“ die Möglichkeiten zum freien Handeln zu nutzen.

So sehen wir gegenwärtig die Mehrheit weiterhin auf dem Schutz der Vulnerablen, der Allgemeinheit beharren und die Minderheit auf der Unversehrtheit ihres Körpers, der für sie sakrosankt ist. Beide Gruppen fällen ihre Entscheidung über Handeln oder Unterlassen im Bewusstsein ihres Freiseins. Der oben schon zitierte Sloterdijk, eher als widerständig, denn staatsgläubig bekannt, sieht es so: „Ich würde nicht sagen, dass ein Nadelstich in den Oberarm so hoch veranschlagt werden müsste wie ein Angriff auf die körperliche Unversehrtheit. Da ist ein starker Übertreibungsfaktor mit im Spiel“. Das kann man so stehenlassen.