Am 1. Februar vermeldeten die Washington Post und andere amerikanische Blätter, in Richmond/Virginia sei nun auch der Steinsockel demontiert worden, auf dem einst das Denkmal des Marineoffiziers Matthew Fontaine Maury stand, der als Erforscher physikalischer Eigenschaften der Meere weltweit bekannt wurde. Er quittierte 1861 im Bürgerkrieg seinen Dienst bei der US-Marine, um sich den Konföderierten anzuschließen. Die Statue selbst, die 1929 als letzte einer Reihe von Konföderierten-Denkmälern auf Richmonds Monument Avenue aufgestellt worden war, wurde bereits im Vorjahr abgebaut, fast zeitgleich mit Virginias größter Statue, der des konföderierten Generals Robert E. Lee. „Damit endet“, schrieb die Washington Post, „die 131-jährige Herrschaft des Denkmals, das den Mythos dieser Stadt als ehemalige Hauptstadt der Konföderation verkörpert.“ Noch immer aber steht die Statue des konföderierten Generals Ambrose Powell Hill mitten auf einer viel befahrenen Kreuzung in Richmond, weil seine sterblichen Überreste darunter begraben sind. Die Stadtverwaltung verhandelt derzeit mit den Nachfahren des Generals, um diese Überreste auf einen Friedhof zu verlegen. So weit, so gut. – So weit, so gut?
Diese Denkmalstürze sind Teil einer landesweiten Politik, die international für Schlagzeilen sorgte, als die New Yorker Stadtverwaltung im Oktober letzten Jahres eine fast zweihundert Jahre alte Statue von Thomas Jefferson aus dem Rathaus entfernen ließ. Der Autor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, hieß es zur Begründung, sei selbst Sklavenhalter gewesen, und das wiege schwerer als diese Erklärung, in deren Präambel es heißt: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal“ („Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen sind“). Jefferson stünde für „die widerwärtige und rassistische Grundlage, auf der Amerika gegründet wurde“. Mit dieser Behauptung brachte der Black, Latino and Asian Caucus, eine Abgeordnetengruppe innerhalb des Stadtrates, diesen auf ihre Seite. Die New York Times und andere führende Blätter hatten diese Kampagne angeregt und unterstützt – im Rahmen des „Projektes 1619“.
Das „1619 Project“ ist eine Idee der Journalistin Nikole Hannah-Jones in Zusammenarbeit mit der New York Times. Im August 2019 erinnerte das New York Times Magazine an den 400. Jahrestag der Ankunft der ersten versklavten Afrikaner in der englischen Kolonie Virginia (wobei Afrikaner bereits seit 1500 in andere, spanisch besetzte Teile Nordamerikas verschleppt worden waren). Eine rasch folgende Serie von Artikeln und vor allem Podcasts der New York Times gab der Behauptung Raum, die amerikanische Revolution sei nichts weiter als eine konterrevolutionäre Verschwörung zur Verteidigung der Sklaverei gegen das britische Empire gewesen. Thomas Jefferson wie auch George Washington wurden mit jenen reaktionären Südstaatlern gleichgesetzt, die sich im Bürgerkrieg 1861 zur Verteidigung der Sklaverei gegen den Norden unter Präsident Abraham Lincoln erhoben hatten.
Prominente Historiker warfen den Initiatoren des Projektes vor, Ideologie über historisches Wissen und Verständnis zu stellen. Doch zunächst lehnte das New York Times Magazine jede Korrektur ab. Erst im März 2020 gab die Redaktion zu, dass einige Passagen über die Rolle der Sklaverei in der amerikanischen Revolution, die die Kontroverse ausgelöst hatte, fehlerhaft gewesen waren. Doch Ende 2020 wurde in Boston sogar eine Statue entfernt, die einen befreiten Sklaven darstellte, der zu Füßen von Präsident Abraham Lincoln kniete. Sie war 1879 dem Original in Washington nachgebildet worden. Die absonderliche Begründung für den Bostoner Bildersturm war, einen Afroamerikaner kniend darzustellen, verewige symbolisch die weiße Vorherrschaft – als ob nicht das genaue Gegenteil wahr wäre!
Natürlich sind solche Kampagnen und Aktionen kein Zufall. Sie sind Teil einer geschickten Strategie, die Wut über soziale Ungerechtigkeiten und rassistische Willkür, die zur Black Lives Matter-Bewegung führte, in ein für die Herrschenden letztlich ungefährliches Fahrwasser zu leiten. Doch erfüllen identitätspolitische Slogans über „weiße Vorherrschaft“, die nicht nach deren Klassengrundlagen fragen, noch einen weiteren Zweck: Sie leisten einem Geschichtsbild Vorschub, in dem die Revolutionäre des Jahres 1776 und die Befreier der Sklaven ab 1861 in eins gesetzt werden mit ihren reaktionären Gegnern.
Man sieht ein ähnliches Vorgehen bei den „Dekommunisierungs“-Kampagnen in der Ukraine und anderen Staaten des ehemaligen sowjetischen Machtbereiches. Der damalige Präsident der Ukraine, Petro Poroschenko, Nutznießer eines vom Westen unterstützten Putsches, verfügte im April 2015 die Entfernung aller kommunistischen Denkmäler sowie entsprechender Namen von Straßen und Plätzen. Ausnahmen galten zunächst noch für Kriegshelden des Zweiten Weltkrieges. Doch dem Verbot der Kommunistischen Partei der Ukraine im Dezember 2015 folgten Gesetze mit den entsprechenden Verordnungen und dem alsbaldigen Abriss aller kommunistischen Erinnerungsorte, angefangen mit Denkmälern Lenins und Swerdlows (ein Trotzki-Denkmal hatte es nie gegeben). Doch auch eine nach Mykola Skrypnik benannte Straße sollte laut Mitteilung des Kiewer Stadtrates ihren Namen verlieren, wie das ukrainische Nachrichtenportal LB.UA am 24. Oktober 2016 berichtete.
Mykola Skypnik (1872–1933) war zuletzt Stellvertretender Regierungschef der Ukrainischen Sowjetrepublik gewesen. Er suchte sich der Stalinisierung der Partei und des Landes so beharrlich wie erfolglos zu widersetzen. Ebenso versuchte er den Hunger im Lande zu lindern. Am 7. Januar 1933 beging er in seinem Büro Selbstmord – unmittelbar bevor er zu einer Sitzung des Ukrainischen KP-Politbüros vorgeladen wurde. Er wusste, es würde keine Wiederkehr in Freiheit für ihn geben, nachdem ihm „Verzerrungen des Leninismus“ vorgeworfen worden waren. – Die Befreier Nordamerikas werden in einen Topf geworfen mit ihren Feinden, die antistalinistischen Kommunisten werden zusammen mit Stalins Schergen und Gefolgsleuten „entsorgt“. Es ist über Grenzen und Epochen hinweg das gleiche Muster der Geschichtsfälschung.
Mit der schließlich vollzogenen Beseitigung unter anderem von Skrypniks Namen aus dem Stadtbild erfüllte der Kiewer Stadtrat auch eine Forderung von Oleh Tjahnybok, einem der Führer der militant antisemitischen Partei Swoboda (Freiheit). Laut der Kiewer Zeitung Segodnja (Heute) wurde ihm im Juni 2013 wegen maßloser antisemitischer Hetzereien die Einreise in die USA verwehrt. Dennoch gehörte er im Februar 2014 zu jenen Kräften, mit denen sich der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier traf, um einen „geordneten Machtwechsel“ im Sinne einer Regierungsübernahme auszuhandeln – dies trotz aller Warnungen aus der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie der deutschen Botschaft, sich mit Leuten solchen Schlages an einen Tisch zu setzen. „Wer die These von den rechtsextremen Verstrickungen der neuen Machthaber in der Ukraine als reine Kreml-Propaganda abtut, macht es sich zu leicht“, schrieb die Frankfurter Rundschau am 12. März 2014. Die Frage bleibt: In welchem Verhältnis stehen heutige Erklärungen von Bundespräsident Steinmeier, den Antisemitismus zu bekämpfen, zur einstigen Bereitschaft des Außenministers Steinmeier, mit einem Judenhasser und seiner Partei gemeinsame Politik zu machen?
Zweierlei Denkmalsturz – sehr verschieden voneinander und doch mit ähnlicher Stoßrichtung: die Erinnerung an jene zu verunglimpfen, die die Befreiung der Menschen ein gutes Stück voranzubringen suchten. Dies alles geschah und geschieht unter der Losung der Verteidigung von Demokratie und Freiheit.
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