24. Jahrgang | Nummer 25 | 6. Dezember 2021

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Eurotrash“ – Schaubühne / „Das Wunder vom Späti“ – Primetime Theater / „Starker Wind“ – Kammerspiele des Deutschen Theaters.

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Endlich, Mama hat Besuch vom Söhnchen. Sie ist kränklich, einsam, langweilt sich in einer luxuriösen Zürcher Psychoklinik und ist steinreich. Das Kind, ein dandyhafter Romancier, ist auch einsam trotz Bestseller-Ruhms. Beide hängen in trauriger Daseinsverlorenheit, spröder Liebe sowie dem Talent für giftigen Humor zusammen. – Was soll man da machen miteinander? Konversation als zynisches Ping-Pong, Austausch von schönen oder schlimmen Erinnerungen – die Platten von David Bowie, die Horror-Geschichten vom Missbrauch. Und ein bisschen raus an die frische Luft. Mit dem Taxi vorbei an den Stationen einer schrecklichen Familiengeschichte rauf in die Berge zum Forellenessen und Edelweißpflücken. Zwischendurch wird der schwierig gute Junge seiner Mutter die Stoma-Beutel wechseln und ihre Sucht nach Drogen stillen. Ansonsten wird man Geld, sehr viel Geld verpulvern – und an irgendwelche Leute verschenken. Auch als eine zugegeben sonderbare Art Wiedergutmachung, denn es ist schmutziges Geld. 600.000 Franken, gestopft in eine Plastiktüte.

So geht es, gleichfalls einigermaßen sonderbar, zu im neuen, stark autobiografisch gefärbten Erfolgsroman „Eurotrash“ von Christian Kracht, Jahrgang 1966. Sein Vater wurde in der BRD-Nachkriegszeit als Generalbevollmächtigter der Axel Springer AG zum Millionär. Der Großvater als Mitmacher in Goebbels Propaganda-Ministerium scheffelte nach Eiltempo-Entnazifizierung massenhaft DM als PR-Chef in der Saubermach-Branche („Badedas“, „Duschdas“).

Kracht spielt in seinem schmalen Büchlein raffiniert mit seiner selbst erlittenen und einer hinzu erfundenen Biografie. Folglich heißt die Romanfigur „Christian Kracht“, hat sehr viel mit dem Autor und seiner Mutter zu tun, doch nicht nur. Die fiktive Reise der beiden durch die Schweiz in die Familien-Vergangenheit entpuppt sich als Fahrt in ihre – miteinander korrespondierenden – Seelenwelten und Traumata. Die beiden wüten gegeneinander; verstehen sich hinterrücks aber doch. Auch wenn sie dem jeweils anderen allerhand vormachen, Theater sozusagen. Sie sind sowohl Gegen- als auch Zusammenspieler. Eine schwere Psycho-Kiste.

Freilich mit Schlaglichtern aufs Politische, auf die Zeiten zurück ins verbrecherische Nazi- und verlogene Nachkriegs(west)deutschland bis hin ins Neonazitum von heute. Und in diesem Zusammenhang auch aufs Soziale, auf Kaltschnäuzigkeit gegenüber moralischem Anstand, auf skrupellose Geldgier, auf die Verrohung durch Mammon. Kracht als Figur sagt: „Wie es mir nur gelungen war, mich aus der Misere oder Geisteskrankheit meiner Familie herauszuziehen, aus diesen Abgründen, die elendiger nicht sein konnten, und ein halbwegs normaler Mensch zu werden, das vermochte ich nicht zu enträtseln.“

Es wird auch jetzt, im Theater, nicht enträtselt. Aber immerhin ahnbar durch den so starken Auftritt von Angela Winkler als dominante Mutterfigur im vornehm altmodischen, knallgelben Seidenkleid, die in ihrer zerbrechlichen Exzentrik aus Verrücktheit und Klarheit dem verzweifelt seine Verzweiflung wegsteckenden Sohn (Joachim Meyerhoff) wohl doch eine Art Halt und Trost gab und gibt.

Was eigentlich eine Tragödie, ein Lebensabschied von Mutter und Sohn ist, inszeniert Jan Bosse, der im unterhaltsamen Zugriff auf Stoffe aller Arten versierte Regisseur, als rabenschwarze Komödie. Ihr Kern: Angela Winkler. Ihre Mutter-Figur, im körperlichen Elend würdevoll mit scharfem Witz gegen und jähem Zorn auf alle Welt (sogar auf die eigene Leibesfrucht), hat sich erstaunlicherweise trotz allem eine unbeschwert kindliche Lebenslust bewahrt. Unvergesslich diese ungebrochen-gebrochene Figur! Und Meyerhoff, geduldig genervt den fürsorglichen Sohn gebend, doch hypernervös immerzu auf dem Sprung, als drohe ein Sturmgewitter, dann wieder winselnd am Boden oder charming, motzig, frech – er fügt sich letztlich mit grinsend weggesteckter Träne ins (Ver-)Söhnliche.

Das hintersinnige Bühnenbild von Stéphane Laimé zeigt eine riesig leere Burg aus Beton. Dann bricht der Boden auf, ein Schiff kommt empor aus dem Untergrund: Statt des Taxis absurderweise ein Segelboot für den irrwitzigen Trip ins Gebirg. Oder anders: Ein Traumschiff für den Höhenflug über all dem Trash tief da unten – bis weit nach Afrika hin zu den wilden Tieren, die Mama so liebt. Zu den Zebras mit den schönen schwarzen Streifen…

Doch holla, zum Schluss, die Streifenträume sind geträumt, die Stoma-Beutel gewechselt, aller Schimpf, all die familiären Schandtaten, alle Manien der beiden gnadenlosen Egos sind durchexerziert, da stürzt der Bühnen-Beton. Da schubst die hohe Frau den Rollator beiseite, schüttelt die Lockenperücke und stolziert erhobenen Hauptes über die steinern graue Bühne hinaus ins Freie. Ins Gewusel auf dem Kurfürstendamm. Oder in die Arme des lachenden Tods. Meyerhoff steht da offenen Munds. Verwundert. Bewundernd.

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Zugegeben, das Primetime, das kleine Stadtteil-Welt- und Volkstheater liefert mir seit vielen Jahren immer wieder eine zünftige Dosis Lieblings-Show. Oder anders gesagt: Einen Mix aus grotesker Komödiantik, saftigem Mutterwitz, inkorrekter Politsatire, Fantasy, Klamotte, Blödelei, Kitsch und rüde herzig Berliner Schnauze. Noch dazu Musike plus krachend ironische Video-Einspieler.

Hier wird mit Kumpel-Typen, Chaoten, Exoten und irren Normalos dem Volk aufs Maul geschaut. Und das geradezu familiäre Volk im 230-Seelen-Saal mit derartigen Figuren zum Mitsingen, Klatschen, Dreinreden animiert. Schon seit fast zwei Jahrzehnten und über alle im Gewerbe üblichen Krisen hinweg (Vermieter, Bürokraten, Sponsoren, die Künstler untereinander). Die Fantasie der Autoren, Regisseure, Selbstausbeuter, Überlebenskünstler scheint unerschöpflich – und deren gute Laune offensichtlich auch. Dafür sorgt schon unermüdlich die paternalistische Energiemaschine Oliver Tautorat, Chef und Impresario der inzwischen frisch, schick und Corona like („Frischluftzufuhranlage“) aufgemotzten Hütte einschließlich Kneipe.

Also auf zum „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“-Weihnachtsspecial. Ein schöner Spaß für die ganze Familie: Titel: „Das Wunder vom Späti“. Und um es gleich zu sagen: Ein Chistkindl wird geboren – nach allerhand biblischen Schwierigkeiten im „Halbmond“, dem fest in türkischer Hand befindlichen Spätkauf. Sozusagen eine kleine, nicht ganz unbedeutende interreligiöse Angelegenheit.

Also die Glocken hängen tief und klingen süß und schräg durchs liebenswürdig raue, längst kultige GWSW-Milieu zwischen Dönerbude und Poststation (Buch: Cynthia Buchheim). Beziehungskräche, Kinderknatsch, Liebeslust und Liebesfrust, Unglück und Glückseligkeit im fliegenden Wechsel; inszeniert von Ryan Wichert, der sich zugleich – die sei ausdrücklich vermerkt – als sonderlich begnadeter Kabarettist outet. Ach ja, auch zwei Engel flattern durch die Gegend, ortstypisch verkleidet als rotzfrech himmlische Bengel. O du fröhliche …

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Nur nicht zurückkehren an verlassene Lebensorte; bringt bloß Frust, sagt alte Weisheit. Und so geschieht es denn auch dem namenlos bleibenden „Mann“ im neuen, erst im Herbst letzten Jahres in Oslo uraufgeführten Stück „Starker Wind“ des Norwegers Jon Fosse.

Der besagte, schon ältere Herr kommt nach längerer Abwesenheit im Irgendwo heim zur Ehefrau, die, inzwischen umgezogen, mit jüngerem Liebhaber lebt im neuen Nest. Eine uralte Sache, Ausgangspunkt für blutige Dramen.

Nicht so bei Fosse, dem entrückten Melancholiker, der vor gut einem Jahrzehnt mit seinen sprachreduzierten Stücken zu einem der meistgespielten Theaterautoren zählte. Seine kunstvollen Sprachkonzentrate führten bei seinen gern schwer an sich und den Verhältnissen leidenden Figuren zu einem Sog des Ungesagten. Sie kriegen es nicht recht heraus, was da quält. Und gerade das machte den spannungsgeladenen Fosse-Sound.

Doch davon ist jetzt, beim „Starken Wind“, höchstens ein Lüftchen geblieben. Die Partitur des Ungesagten bloß ein Heimkehrer-Lamento. Ein redundantes Gestammel als einstündiger Monolog (für Bernd Moss), genannt „Szenisches Gedicht“. Die ihrer Ehe überdrüssige „Frau“ (Maren Eggert) nebst „jungem Mann“ (Max Simonischek), die beiden haben hingegen nur ein paar karge Sätze.

Und so hockt denn der Alte am Fenster und meditiert übers Hinausschauen. Moss spielt das als einer, der längst hinein getrudelt ist in den Daseinsüberdruss. Vom Leben schwer gewürgt hängt er zwischen den Sitzen der Publikumstribüne in den Kammerspielen. Wir sitzen gegenüber auf der Drehbühne, hören seinem mal missmutigen, mal verzweifelten Palaver zu, das hausfrauenphilosophisch vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt. Von der „Irgendwie“-Bedeutung oder „Irgendwie-Nicht“-Bedeutung des Vergangenen, des Jetzt, der Zukunft, der Ewigkeit bis hin zur Frage, ob es wohl „Augenblick“ heißt oder „Augenblinzeln“. Klar, da wird es keinen ehemännlichen Aufstand geben, werden keine Fetzen fliegen, als händchenhaltend die Ehebrecher auftauchen. Da wird nur greinend gepocht auf den Ehebund: „Das dürft ihr nicht, wir sind doch verheiratet.“

Warum bloß war die Dramaturgie so scharf auf derart Flaches und Kraftloses als deutschsprachige Erstaufführung?

Immerhin engagierte man dafür den für Feinnervigkeit, Psychologie und Fantasie im Umgang mit abstrakten Texten berühmten Regisseur Jossi Wieler, der, anstatt redlich im dürren Text zu kramen, sich’s leider verkniff, aus dem faden Werkchen keck ein groteskes Eifersuchtsding zu wuppen.

Dafür überzeugte sein Grundeinfall, den Zuschauersaal zur Bühne zu machen, um dem weicheiernden „Mann“ bei seiner Einfalt wenigstens für ein bisschen körperliche Beweglichkeit Raum zu schaffen. Dann wendet sich das Publikum auf rotierender Scheibe um 180 Grad und sieht eine Kletterwand, auf der das blass bleibende Liebespaar in Bergsteiger-Posen Sex demonstriert. Na gut. Dass man sich dann halbnackt noch kindisch mit grüner Pampe beschmeißt – geschenkt.

Zum Schluss fragt der stramme Bursche, ob Schlaffi einen Dreier okay fände. Der mault, das Weib schreit „Raus!“. Meint aber nicht, was denkbar, ihren Liebhaber. Der Gemahl schaut verdattert, sucht noch nach „Augenblick“ oder „Augenblinzeln“ und stürzt sich im 13. Stock aus dem Fenster in den Starkwind.