24. Jahrgang | Nummer 24 | 22. November 2021

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: Slippery Slope – Maxim-Gorki-Theater / „Einsame Menschen“ – Kammerspiele des Deutschen Theaters Berlin

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O Gott, nicht schon wieder Cancel-Culture, gestrenge AufpasserInnen mit Moralkeulen oder stählerne AktivistInnen mit identitärer Politik. Bitte nicht schon wieder diesen rasenden Wahnsinn! – Aber nein doch! Denn ausgerechnet im politisch demonstrativ links gesinnten Gorki-Volkstheater rast der Wahnsinn erfrischend gegenläufig. Da werden die ideologischen Rechthabereien, die dogmatischen Gebote und Verbote frech in Frage sowie die grassierenden Rufmord-Mechanismen unverschämt bloßgestellt. Und zwar lauthals mit Show, Musik, Kabarett. Oder anders gesagt: Durch das schmissige Musical „Slippery Slope“.

Wow! Das hatten wir noch nicht in unserm ach so brav korrekten Bühnenbetrieb. Da musste erst – wieder einmal – die in Jerusalem geborene Regisseurin/Autorin Yael Ronen kommen, die schon öfters das Gorki mit komplex inkorrekten Fragen theatralisch hochwertig aufmischte. Jetzt, für ihre grelle Show auf gefährlich glattem Terrain, hat sie das komödiantisch und musikalisch auftrumpfende Ensemble praktischerweise gleich mitgebracht.

Prompt wippen nicht nur die Popmusikfans aller Sorten von Schlager bis Elektro-Krach begeistert mit den Füßen, derweil die gleichfalls im Super-Sound wackelnden Köpfe Ironie bekommen und Sarkasmus satt (Text: Ronen, Shlomi Shaban, Riah May Knight, Italy Reicher; Musik: Shaban, Yanif Friedel, Ofer Shabi).

Zum slippery Personal der aberwitzigen Story aus dem schlüpfrigen Milieu des Unterhaltungs- und Medienbetriebs gehören: Eine egomanisch großkotzige Macho-Heulboje, die mit Ethno-Singsang übergriffig kulturelle Aneignung betreibt und doch bloß läppische 5000 Follower aktiviert. Seine Liebschaft, die seine Zuneigung gezielt als Missbrauch versteht und im Netz entsprechende Hinrichtungs-Shitstürme auslöst. Eine als irrer Mix aus Lady Gaga und Manga-Maus dekorierte Singdrossel mit – oho! – Millionen TikTok-Klicks. Eine durch und durch woke Reporterin, die nach feministischen Pornos sucht und die Manga-Gaga zum Shitstorm-Opfer macht, weil die weiße Lady sich People-of-Color-Hits schnappt für ihren Ruhm – schließlich stellt sich heraus, die lustvolle Schnüffel-Journalistin verdankt ihre Karriere der Freundschaft ihres Chefs mit einem Minister, dessen sexuelle Übergriffigkeiten sie erfolgreich vertuschte …

So in etwa. Jeder mit und jeder gegen jeden, denunziatorisch und lügnerisch, aber immer moralisch hoch gerüstet – mit Lindy Larsson, Riah May Knight, Anastasia Gubareva, Viona Popoc, Emre Aksizoglu.

Was für ein verrückter Mix der Auf- und Abstürze, Manipulationen und Machtspiele. Was ist da Fiktion, was Wahrheit, das ist die Frage, die Opfer zu Tätern macht und umgekehrt. Was anfänglich als aufklärerisch-emanzipatorisch gut gemeint war, ist mittlerweile längst versackt in den verwirrend verschlungenen Grabenkämpfen zwischen angesagt Richtigem und vermeintlich Falschem, zwischen Gut und Böse, das nirgends in Reinform zu haben ist.

Und weil wir nicht in der Tragödie sind (der Stoff gäbe es her), sondern im singenden und swingenden Panoptikum der grotesken Karikaturen, ist das Aufklärungspotential besonders beträchtlich. „Slippery-Slope“ (auf Englisch mit deutschen Übertiteln) als verwegene, gekonnte Ideologiezertrümmerung ist das Stück der Stunde. Wahnsinn!

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Erst tröpfelt es, dann gießt es wie aus Kannen (aus der Sprinkleranlage). Doch kein Wetter der Welt kann die Explosion der Leidenschaft stören, die zwei junge nackte Männer gierig und kraftvoll, zärtlich und innig ausleben. Eine schöne halbe Stunde lang. Boah! Mutig! Die Theatergeschichte wird‘s verbuchen. – Jedoch: Diese zentrale, hingebungsvoll und ohne Peinlichkeit ausgemalte Sex-Szene signalisiert keinen Befreiungsschlag, keinen dramatischen Um- oder Ausstieg. Sondern höchstens einen Zwischenfall.

Es geht in den DT-Kammerspielen um das Stück „Einsame Menschen“ von Gerhart Hauptmann. 1891: Die Ehe von Johannes und Käthe Vockerat steckt in der Krise. Das hübsche „Landhaus in Friedrichshagen vor den Toren Berlins“, das Baby und die ratlos beflissene Großmama helfen da auch nicht weiter. Er leidet als Dichter nach Ersterfolgen an langjähriger Schreibblockade, kann mit seinem Weibchen (süß, aber doof) wenig anfangen, vermisst geistigen Austausch. Da schneit Anna Mahr ins stockende Dasein; eine schicke scharfe Großstadt-Intellektuelle. Ab sofort gilt für Hannes: Alles auf Anna. Philosophische und politische Diskursketten (Revolution, Rebellion, Resignation), Demütigungen, Hochmut, Egoismus, die Unfähigkeit, aus einem falschen Leben in ein richtiges zu wechseln, die menschliche Schwäche gegenüber den Zwängen der Verhältnisse und folglich allgemeines Unglücklichsein treiben die eheliche Zerrüttung in die Katastrophe. Hannes macht Selbstmord.

Und jetzt der von Regisseurin Daniela Löffner besorgte Umbau der Geschichte, die sich der 28jährige Hauptmann – autobiographisch eingefärbt – von der Seele schrieb.

Anna Mahr ist nun männlich, schwul, bereits mit 26 Professor am Lehrstuhl für Feministische Zukunftsforschung, schneit aus Stanford herein und heißt Arno Mohr (Enno Trebs). Käthe (Linn Reusse) ist eine intelligente, trotzdem abgebrochene Medizinstudentin um die 30 mit postnatalen Depressionen. Und Hannes (Marcel Kohler) ein verantwortungsloser, groß- und kaltschnäuziger Macker („ich hasse zufriedene Menschen, alles Spießer“), der gelegentlich unwillig den Vater markiert und ansonsten – alles auf Arno! – bewundernd in den Prof. aus Silicon Valley verknallt ist.

Also auch hier: Ehekrise. Ihrer Eskalation schaut man mit einigem Interesse zu: Dem gegenseitigen Sich-was-vormachen, den schamlosen Beleidigungen, Hilflosigkeiten, Unverschämtheiten sowie abgewehrten Versöhnungsgesten, dem unterwürfig weggesteckten Leiden, dem Männergeflirte und resoluten Dazwischenfunken der bodenständigen Großmutter (Judith Hofmann). Arno, der ungebundene Stanford-Freigeist begutachtet ohne viel Diskussionen zuweilen Hannes‘ neue Schreibversuche im Laptop und mimt – bevor es nach der Pause heiß zum Männersex kommt – kühl den Außenstehenden gegenüber den Gebundenen.

Zuvor immerhin hat Käthe, zwar dünnhäutig, doch taff ankämpfend gegen die vom Ehemann verordnete Minderwertigkeit, bittere Tränen weggewischt und berufliche Aufbrüche in die Selbstständigkeit erwogen. Was trotzdem die Fragen anheizt: Warum bloß haut die Frau von heute den beiden Herren nicht den ganzen verkorksten Eheladen samt verdruckst schwuler Liebelei um die Ohren? Warum gönnt Hannes, der unentwegt den Anti-Spießer raushängen lässt, sich nicht längst das Comingout? Warum vereinbaren beide Eheleute nicht einfach eine Auszeit?

Und warum inszeniert Daniela Löffner unentwegt fein ziseliert bloß weinerliche Verdrängungskistchen? Warum klebt sie so brav am ohnehin verkürzten Originaltext, anstatt – wenn schon Überschreibung! – ordentlich zugespitzt die moderne Form der alten Konflikte kräftig auszumalen? So jedoch bleibt der ganze technisch gut gemachte, aber platt getextete Abend mit seinen folglich flachen Figuren oberflächlich. Ist weder Fisch noch Fleisch, weder Hauptmann 1891 noch 2021.

Womit auch noch die die Chance für eine Show dramatischen Scheiterns vertan ist. Schließlich wird heutzutage trotz triumphierender Aufklärung auch kräftig gescheitert. Etwa mit emanzipatorischen Aufwallungen eines schwulen Vaters oder den Befreiungsversuchen einer lieblos beiseitegeschobenen Frau. Da hängt doch Tragödie schwer in der Luft überm idyllischen Wassergrundstück mit Bootsanleger und Seeblick.

Doch. Auch Tragödie ist abgeblasen. Dafür wird zeitgeistheischend das Erotissimo aufgeblasen. Nachdem sich‘s abgeregt und ausgeregnet hat, hängen allesamt aber jeder für sich schlaff in den Sielen. Noch ein Viertelstündchen Katerstimmung bei Vockerats. Arno reist ab, und Hannes, das klugscheißende Weichei, schleicht sich still und leise davon. Ertränkt sich im Müggelsee. Oder auch nicht. Na und?