24. Jahrgang | Nummer 23 | 8. November 2021

Zufluchtsort Berkeley

von Mario Keßler

Sanctuary City (Zufluchtsstadt) bezeichnet eine Stadt oder Gemeinde in den USA, die unabhängig von der Gesetzgebung der Regierung den sich dort befindenden, oft illegalen Einwanderern Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen gewährt und sich weigert, an vom Staat verordneten Abschiebungen mitzuwirken. Im Wahlkampf um die Präsidentschaft 2017 griff Donald Trump solche Initiativen scharf an und strich als amtierender Präsident sofort die Finanzhilfen für die Städte, die illegal eingereiste Zuwanderer nicht festnahmen.

Vor fünfzig Jahren, am 8. November 1971, verabschiedete die kalifornische Stadt Berkeley die allererste Sanctuary-Resolution zum Schutz von Matrosen der US-Marine, die sich dem Vietnamkrieg widersetzten. Die Initiative ging von der Kirchengemeinde der Universal Lutheran Chapel in der Nähe des Campus der University of California Berkeley aus. Der Pastor dieser Gemeinde, Gus Schultz, hatte im Gefängnis gesessen, weil er einen Protest vor dem örtlichen Einberufungsbüro organisiert hatte, und ein Gemeindemitglied war beim Sonntagsgottesdienst nach der Verbrennung seines Wehrpasses verhaftet worden. Ein anderer Kriegsgegner, Bob Fitch, wandte sich an Pastor Schultz zu der Zeit, als der Flugzeugträger USS „Coral Sea“ vor seiner Verlegung nach Vietnam auf dem Marinestützpunkt Alameda stationiert war. Fitch hatte zuvor mit Kirchen in San Diego zusammengearbeitet, um die wachsende Zahl von Seeleuten zu unterstützen, die sich nicht am Krieg beteiligen wollten.

Trotz angedrohter harter Repressionen hatten die Kriegsgegner an Bord der „Coral Sea“ eine SOS-Kampagne (Stop Our Ship) organisiert. Gemeinsam entwarfen Schultz und Fitch einen Plan, um Kirchen als sichere Zufluchtsorte anzubieten. Dort sollten Militärangehörige Informationen über Kriegsdienstverweigerung erhalten, sich mit zivilen Aktivisten treffen und materielle Unterstützung, einschließlich einer Unterkunft, bekommen. Obwohl sie sich mit einer Handvoll anderer Gemeinden in der East Bay vernetzten, bestand der Plan nie darin, „eine Untergrundbahn für Deserteure zu bauen“, erklärte Bennett Falk, der an dieser frühen Organisation beteiligt war und später als Präsident der Universal Lutheran Chapel fungierte.

Ein Teil der medienwirksamen Strategie war es, einer Antikriegsbewegung, die zunächst weitgehend mit der Hippie-Gegenkultur identifiziert wurde, die moralische Autorität von religiösen Organisationen zu verleihen. „Für uns war es wichtig zu zeigen, dass es sich nicht nur um eine symbolische Aktion handelt“, sagte Falk. „Wir wussten, dass wir etwas tun, das wirkliche Konsequenzen hat, und wir waren bereit, diese zu akzeptieren.“ Unter der Führung des ersten schwarzen Bürgermeisters der Stadt, Warren Widener, folgte Berkeley der Universal Lutheran Chapel und verabschiedete noch in derselben Woche eine Resolution über die Zufluchtsstätte, die erste kommunale Politik dieser Art.

Nur einige wenige Seeleute der USS „Coral Sea“ fanden in den Kirchen der East Bay Unterschlupf, bis sie verhaftet wurden. Doch „diese relativ nebensächliche Begebenheit… veränderte sowohl die Politik des GI-Widerstands als auch den Inhalt und die Bedeutung von Kirchenasyl selbst“, schrieb Professorin Jennifer Ridgley, die diese Geschichte erforschte.

Ein entsprechendes Mandat für eine Änderung der Stadtverordnung beschlossen im Jahr 1979 erstmals die Stadtverwaltung von Los Angeles (Los Angeles City Council) und das Los Angeles Police Department (Special Order 40). Eine einheitliche Definition der Bundesregierung darüber, was eine Sanctuary City ist, lag im April 2017 aber noch nicht vor und war Gegenstand einer Auseinandersetzung der Stadt Los Angeles mit dem Heimatschutzministerium. Dennoch bezeichnen sich heute in den USA rund 200 Städte und Gemeinden als Sanctuary Cities, in denen sich 2017 rund elf Millionen Personen aufhielten, die unter deren Schutz fielen.

Die Debatten über die Sanctuary Cities erhielten in den letzten Monaten neue Nahrung. So ist der Stadtrat von Mason (Ohio), einer kleineren Stadt im Großraum Cincinnati, bemüht, dem Ort einen solchen Status zu verleihen. Damit soll er Frauen, vor allem aus Texas, Zuflucht bieten, die an ihren Wohnorten keine Möglichkeit der Abtreibung haben. Seit dem 2. September dieses Jahres verbietet ein Gesetz des Bundesstaates Texas Abtreibungen, sobald der Herzschlag des Fötus festgestellt worden ist, was bereits in der sechsten Woche der Schwangerschaft der Fall sein kann. Viele Frauen wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie ein Kind erwarten. Das Gesetz lässt auch keine Ausnahme bei Schwangerschaften zu, die infolge von Vergewaltigung entstanden sind.

Eine Passage im Gesetz ermöglicht es Privatpersonen, zivilrechtlich gegen jene vorzugehen, die einer Frau bei einer Abtreibung helfen. Dies betrifft auch Menschen, die Adressen einer Klinik ermitteln und weitergeben, in denen Abtreibungen vorgenommen werden, und natürlich solche, die eine schwangere Frau zu einer derartigen Klinik fahren.

Nach einer Klage der Bundesregierung wurde die Anwendung des Gesetzes zunächst ausgesetzt, ist aber nach einer weiteren Klage des Staates Texas vor einem Berufungsgericht wieder in Kraft gesetzt worden. Am 1. Dezember prüft das Oberste Gericht der USA ein Gesetz des Staates Mississippi gegen Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche. Donald Trump sorgte in der Zeit seiner Präsidentschaft dafür, dass die Zusammensetzung des Obersten Gerichts eine zuverlässige konservative Mehrheit garantiert.

Noch gilt die Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichts vom 22. März 1973, wonach über einen Schwangerschaftsabbruch die Frau selbst entscheiden kann. Vorerst verletzt also das Gesetz des Staates Texas diese Entscheidung, deren Rücknahme eine permanente Forderung konservativer „Lebensschützer“ ist. Ihnen hat sich schließlich auch Norma McCorvey angeschlossen, auf deren Initiative die noch in Kraft befindliche Grundsatzentscheidung zurückgeht. Sie versuchte im Jahr 2005 erfolglos, deren Rücknahme zu erreichen.

Am 9. September reichte die Regierung der USA beim Bundesgericht in Texas eine Klage ein und forderte, dass das Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit umgehend für ungültig erklärt wird. Vor zwei Jahren, im November 2019, hatte ein Gerichtsurteil das im Bundesstaat Alabama geplante strikte Abtreibungsverbot vorerst gestoppt. Schwangerschaftsabbrüche sollten in nahezu allen Fällen verboten werden, auch bei Vergewaltigungen oder Inzest. Ärzten, die sich nicht daran hielten, drohten bis zu 99 Jahre Haft. Über die Zahl der Abtreibungskliniken in den USA existieren derzeit keine verlässlichen Angaben, doch sind seit 2012 über 54.000 solcher Kliniken geschlossen worden. In Mason (Ohio) gibt es keine Klinik, die Abtreibungen vornimmt. Im Dezember 2020 strich die Regierung Trump als eine ihrer letzten Amtshandlungen dem Staat Kalifornien 200 Millionen Dollar. Diese Bundesmittel waren zur finanziellen Unterstützung von Frauen geplant gewesen, die sich anderweitig nicht die hohen Kosten einer Abtreibung leisten konnten. Die Stadt Berkeley steht mit ihrer zahlenmäßig starken Studentenschaft auch heute an der Spitze im Kampf gegen diese Restriktionen.