24. Jahrgang | Nummer 21 | 11. Oktober 2021

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“ – Volksbühne; „Ödipus“ – Schaubühne

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„Alles, was nicht brummt, macht keinen Bock.“ ‑ Ansage von René Pollesch. Schon immer schmiss der vielschreibende und fix denkende Windhund im deutschen Theaterbetrieb mit griffigen Sätzen locker um sich wie Rheinländer mit Kamelle. Und so auch jetzt wieder zum Antritt als Chef der Volksbühne in seinem neuen Stück „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“. Bleibt die Frage: Was ist es, was da brummen soll?

Es sind die hochtourigen Motoren seiner Gedankenschleuder, seiner gern geistreichen Sentenzen-Maschine, seines Kalauer-, Witzel-, Blödel-Fließbands. Die sind die Triebkraft des Pollesch-Theaters, das keine Figuren, keine Psychologie, keine Story hat, sondern viel und virtuos tönende und turnende Sprech-Apparate, vollgestopft mit dem Salat hoch geschraubter bis flach verschwurbelter Gedanken. Man könnte auch sagen: postmodernes Diskurstheater.

Wer damit klar kommt, ist schlau oder vom Fach oder hat Glück. Wer nicht – selber schuld. Dass die grellbunten, seit Jahrzehnten selbstreferenziellen Pollesch-Fantasien oft über allerhand Unterhaltungswert verfügen, liegt zum einen an effektvoll optischer Ausstattung (wer nix kapiert, hat wenigstens was zu gucken), zum anderen am Rhetorik-Personal – stets Spitzen der Branche. Diesmal dabei: Kathrin Angerer und Martin Wuttke, dazu Susanne Bredehöft und Margarita Breitkreiz.

So geht das nun gefühlt seit Ewigkeiten mit Pollesch, Liebling der Szene wie der Kulturpolitik – auch deshalb der neue Job als Chef der Post-Castorf-Bühne. Stürzte doch das wohl wirkmächtigste Haus im ganzen Land nach 25 stilprägenden Frank-Castorf-Jahren durch das fröhliche Unverständnis des Belgiers Chris Dercon für die so besondere Location am Rosa-Luxemburg-Platz in den Orkus. Dem folgte die Interims-Intendanz von Klaus Dörr, die vorzeitig abgebrochen wurde durch nicht gänzlich korrekte Vorwürfe erotisch unkorrekten Verhaltens am Arbeitsplatz.

Und jetzt also René Pollesch als Chef. Eigentlich hätte es ja eine Frau sein müssen. Deshalb das unentwegte Intendantengefasel vom kollektiven Führungsstil (alle reden mit und drein). Damit gingen schon andere schwierige Großbetriebe baden. Zudem soll es cool sein, dass man nicht wie sonst üblich bei derartigen Gelegenheiten mit monumentalem Neustart-Gedöns und einem Paket wuchtiger Großproduktionen anfängt, sondern erstaunlich bescheiden: Man schenkt – poetische Idee ‑ dem Theatervorhang eine liebevolle Hauptrolle. „Aufstieg und Fall eines Vorhangs …“

Das kunstvoll sich aufbauschende und zusammenfallende Tuch, starker Hingucker von Bühnenbildner Leonard Neumann, eingefärbt in warm leuchtendes Orange, verdeckt oder entblößt den Spieler wie die drei Spielerinnen, die sich choreographisch mit dem „Stoff“ beschäftigen sowie mit zwei Campingstühlen und einem Eimer, dem historischen Artefakt des Hauses (leider leer, kein Kartoffelsalat).

Und sonst? Zunächst wäscht Wuttke der Angerer die Füße. Rührend. Auch gibt es hübsche Aha- und Oho-Momente ob feiner Geistreicheleien und scharfer Sarkasmen bezüglich des Herumgeisterns zwischen Schnürboden und Portal wie zwischen Leben und Tod. Folglich trägt Wuttke (wieder ein Hingucker!) ein zuweilen genüsslich rauchendes Gerippe huckepack.

Auch die Gefallsucht des Theaters kommt (selbst)ironisch zur Sprache. Und eine Begeisterung für den Zirkus, in dem – etwa beim Messerwerfen ‑ das Danebentreffen als das Kunststück gilt. Dann plappert man unsortiert ein bisschen von Dostojewski, Brecht und Revolution, von Tragödie bis Video und Digitalcollage, von Tantiemen, Festverträgen, Kindheit, Jugend, Alter. Und freut sich mit Tolstoi, der sich am liebsten mit Leuten unterhält, die nicht reden konnten. Nebenbei wird die Frage aufgeworfen, ob der Vorhang der „Lappen“ sei oder womöglich der Schauspieler mit Schminkkasten und Perücke. Und ob er dann „läppisch“ sei.

Alles in allem: Kunst- und Lebenskonfetti zwischen Portal und Schnürboden, in knapp 90 Minuten vom großen Vorhangtuch verwirbelt bei gefälliger Musik. Eine luftig leichte Kleinigkeit.

Doch Schwergewichtigeres ist auch nicht in Sicht. Kein Bock auf ordentlich Gebrumm? Dafür hört man neuerdings von der Übernahme einer Pollesch-Altproduktion aus Wien mit Kathrin Angerer, seltsam säuselnden Anspielungen auf Bertolt Brecht, Fred Astaire sowie Wrestling nebst Identitätsgerede in spektakulärem Bühnenbild – wenigstens der Hingucker ist gesichert. Doch das vorbildlich divers aufgestellte Führungskollektiv steckt offensichtlich noch in der Ideen- und Selbstfindung.

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Launige Abendgesellschaft gutsituierter Enddreißiger im linksliberalen akademischen Milieu: Teures, freilich biologisch korrektes Essen, feine Weine, geschmackvolles Ambiente. Einige Zimmer weiter der Nachwuchs, darunter ein Säugling. Plötzlich ein Schreien – das Töchterchen hat das greinende geschwisterliche Baby einfach aus dem Fenster geworfen. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war in der heilen Gutbürgerlichkeit. „Abgrund“ heißt das Stück der Schaubühnen-Dramaturgin Maja Zade, das Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier vor zwei Jahren in seinem Haus inszenierte.

Ein erschütterndes, beklemmendes, bis heute in mir nachhallendes Stück. In geborgen Gemütliche knallt das Unglück – was für ein Thema.

Es hat Maja Zade derart gepackt, dass sie es gleich noch einmal aufnimmt. In ihrem neuen Opus „Ödipus“, gleichfalls von ihrem Chef Ostermeier ganz klassisch realistisch inszeniert als virtuoses Konservationsstück mit großartigem Ensemble, jetzt also hat die Autorin den antiken Stoff keck zum Muster genommen für eine wiederum völlig zeitgenössische Geschichte.

Ein mittelständischer Betrieb, die miteinander verwandte Unternehmensführung trifft sich, es gibt Management-Probleme. Und Schritt für Schritt stellt sich, wie bei Sophokles, heraus, dass der Sohn den Vater getötet, die Mutter geheiratet und geschwängert hat. Alles geschah ohne Absichten, doch vom zerstörerischen Schicksal so gefügt. Ein für glücklich gehaltenes Daseinsgehäuse stürzt krachend zusammen. Zurück bleibt ein Trümmerhaufen.

Man darf fragen: Warum ausgerechnet das drastische Sophokles-Konstrukt? Man hätte genauso gut (oder besser?!) gleich den Griechen-Klassiker zeigen können. Doch man wagte die total heutige Verkleidung. Dabei fallen freilich allerhand grobstichige Nähte auf. Dennoch, des Schicksals selbst wüsteste Volten bleiben halt allgegenwärtig.

Hinzu kommt die großartige Dialogkunst von Maja Zade, die von anfänglich harmloser Plauderei sich ins Entsetzliche steigert und noch dazu psychosoziale Konturen der Figuren geschickt bloßlegt.

Und last but not least: Die Regie dirigiert innerhalb eines von weißen Leuchtstangen bewehrten Gehäuses (oder Gefängnisses; Bühne: Jan Pappelbaum) in bewusst TV-realistischer Genauigkeit ‑ auch das eine Theaterkunst ‑ ihr starkes Ensemble. In deren faszinierendem Mittelpunkt: Die kostbare Schaubühnen-Neuerwerbung Caroline Peters als Mutter und hochschwangere Ehefrau Christina (bei Sophokles: Jokaste). Dazu Renato Schuch als ihr Ehemann und Sohn, ihr Bruder Robert (Christian Tschirner) sowie ihre Freundin Theresa (Isabelle Redfern).

Freilich: Ob mit oder ohne Sophokles: Dieser neue „Ödipus“ demonstriert ein extremes Stück Gegenwart. Und derartiges gehört auf die Bühne. Sind wir doch nach wie vor umstellt, gar beherrscht von Extremen. Das Publikum reagierte irritiert. Bis stürmischer Beifall sich Bahn brach.