24. Jahrgang | Nummer 19 | 13. September 2021

Der Stöpsel

von Frank-Rainer Schurich

In grauen Vorzeiten war ein Stöpsel ein kurzer und dicker Mensch. Daraus wurde später im übertragenen Sinne ein kleiner Junge, ein Knirps. Im 18. Jahrhundert wandelte sich der Stöpsel zu einem technischen Begriff, nämlich zum Verschluss, der in eine Öffnung gedrückt wird, um das Auslaufen oder Eindringen vor allen Dingen von Flüssigkeit zu verhindern. Und auch der Steppke, der wohl von Berlin aus die Reise in die deutsche Sprachlandschaft antrat, hat irgendwie diese ungewöhnliche Wortwurzel und kann vom Verb stopfen abgeleitet werden.

Der Stöpsel hat auch als Korken, Pfropfen oder eben Stopfen den Weg in unsere Alltagssprache gefunden. Man kann eine Flasche oder die Ohren mit einem Stöpsel verschließen, den Stöpsel knallen oder springen lassen (was bei den Ohren nicht geht), und manchmal bekommt man den Stöpsel oder Korken nicht heraus, was unter Umständen dazu führen kann, dass ein Ohrenarzt aufgesucht werden muss.

Auf Latein heißt der Stöpsel in einer modernen Übersetzung aquae fluxus obturaculum – was ungefähr „Verstopfer des Wasserflusses“ bedeutet. Es gibt eine zwanghafte Störung, bei der die davon befallenen Menschen eine panische Angst haben, bei Reisen in den Beherbergungsstätten keinen Stöpsel im Waschbecken vorzufinden. Sie reisen daher immer mit einem ganzen Arsenal. Diese Störung ist eine Art Aquaphobie, weil befürchtet wird, dass das Wasser wegfließt und nicht gestaut werden kann.

Apropos Reise. Wir fuhren in der letzten Dekade des Monats Juli ans Meer, genauer an die Ostsee nach Ahlbeck auf der Insel Usedom. Im Spül- und Waschbecken der Ferienwohnung waren die Stöpsel jedenfalls vorhanden, und überhaupt war alles perfekt. Und so dachten wir frohen Mutes an Heinrich Heine, dem ganz besonders wunderbar zumute wurde, wenn er allein in der Dämmerung am Strande wandelte.

Der Strand war außerhalb der Dämmerung sehr gut mit Menschen und Strandkörben gefüllt. „Am Tage liege ich im feinen, hellen Sand und lasse mich von der Sonne durchglühen“, schrieb einmal die melancholische Schriftstellerin Mascha Kaléko. Das taten wir nun wegen der Menschenmengen nicht, aber wir gingen am Strand von Ahlbeck nach Bansin und nach Swinemünde. Die Strandverschmutzung hielt sich in Grenzen. Wir sahen leere Pfandflaschen, vergessene Handtücher, Sektkorken und einen Gummistöpsel.

Aus der Hauptstadt vor Mord und Totschlag, der organisierten Kriminalität und den hohen Inzidenzwerten geflüchtet, gestalteten wir die Usedomer Ferientage sehr erholsam. Verbrechen erlebten wir nicht, und von den eher harmlosen kriminalistisch relevanten Ereignissen auf der Insel erfuhren wir nur aus den regionalen Zeitungen.

In der Nacht zum Donnerstag, zum 22. Juli, wurde zum Beispiel eine Gruppe junger Leute aus Frankfurt (Oder) am Zinnowitzer Strand überfallen. Gegen ein Uhr waren vier Jugendliche aus der Region an den Strand gekommen und hatten sich gegenüber den Urlaubern sofort aggressiv verhalten. „In der Folge kam es zu Körperverletzungen an einem 21-jährigen Mann und einer 17-jährigen Frau“, meldete die Polizei. Die Brandenburger flüchteten vor den Angreifern; bei ihrer Rückkehr zum Tatort bemerkten sie, dass Geld und Handys aus ihren Rucksäcken gestohlen worden waren. Gesamtschaden circa 1110 Euro. Es gelang schnell, drei Angreifer dingfest zu machen.

In Zempin hatten Urlauber aus Thüringen ein Feuer in der Ferienwohnung verursacht. Kurz nach ihrer Abreise am 22. Juli brannte das Domizil lichterloh. Die Kriminalisten ermittelten, dass das Paar wohl einen Plastikkorb auf den Herd gestellt und ihn auf den heißen Platten vergessen hatte. Es entstand ein Schaden von mindestens 20.000 Euro. Das war ein katastrophaler Urlaubsabschluss, denn nun wird gegen die Verursacher wegen fahrlässiger Brandstiftung ermittelt.

Am Freitag darauf wollte eine Urlauberin aus Brandenburg, 34 Jahre alt, von ihrem zweijährigen Sohn auf der Seebrücke in Zinnowitz ein Foto machen. Bei dieser Aktion stürzte der Steppke rund fünf Meter hinunter in das nur 50 Zentimeter tiefe Wasser. In Panik sprang die Mutter hinterher. Der Junge überlebte den Sturz ohne Verletzungen – ein Wunder. Die Mutter kam aber mit einem offenen Bruch des Sprunggelenks per Helikopter ins Greifswalder Krankenhaus.

In der Nacht vom Samstag zum Sonntag musste ein 26-jähriger Deutscher in Heringsdorf-Neuhof mit Hand- und Fußfesseln fixiert werden. Er hatte eine Frau verletzt und Polizisten beleidigt. Was war passiert? Der junge Mann rannte schreiend auf eine zufällig vorbeikommende Streife der Bundespolizei zu. Die Polizisten bemerkten auch eine Frau, die weinend auf der Fahrbahn saß – mit einer stark blutenden Unterarmwunde, in der noch eine Glasscherbe steckte. Die Frau wies auf den schreienden Mann: „Der war es!“ Nach ihrer Aussage hatte er sie zu Boden geworfen, weil sie nicht mit ihm gehen wollte. Er warf eine Flasche auf den Boden, wodurch die Splitter den Unterarm des Opfers verletzten. Der Täter mit 2,12 Promille im Blut, der wohl zu viel Stöpsel hatte knallen lassen, wollte fliehen; nach Aufforderung eines Bundespolizisten stehen zu bleiben, lief er auf diesen zu und wollte ihn schlagen. Dem Krakeeler mussten Hand- und Fußfesseln angelegt werden, da er permanent körperlichen Widerstand leistete.

In der Nacht zum Dienstag, wir schrieben den 27. Juli, wurde in ein Ferienhaus in Zinnowitz in der Straße Am Strummin eingebrochen. Gegen 10.20 Uhr stellten die Urlauber den Einbruch fest, es fehlten diverse Gegenstände im Gesamtwert von etwa 500 Euro. „Die unbekannten Täter gelangten in das Haus, während die Feriengäste in der oberen Etage schliefen“, vermeldete die Polizei. Von den Einbrechern fehlte jede Spur. Die Urlauber hatten wohl mit Ohrstöpseln geschlafen.

Eine kuriose Geschichte erzählte uns unsere Vermieterin Frau Will. Sie hatte kurz vor unserer Ankunft sehr, sehr nette Gäste. Der Ehemann riet ihr sogar, in den Küchen einen Zettel mit dem Hinweis anzubringen, dass Toaster, Eierkocher, Kaffeemaschine und dergleichen vorzuziehen seien, weil sonst die Oberschränke beschädigt werden könnten. Der Vorschlag wurde sofort in die Tat umgesetzt. Aber bei der Abreise stellte Frau Will fest, dass der Stöpsel vom Küchenbecken mitgenommen wurde. Da dieses Modell nicht kurzfristig zu bekommen war und am nächsten Tag schon neue Gäste anreisten, musste ein Klempner den Ablauf an der Spüle kostenintensiv auswechseln.

In Berlin überschlugen sich nach unserer Rückkehr die Sensationsberichte über Mord und Totschlag in der Hauptstadt und über die Clan-Kriminalität durch sogenannte arabische Großfamilien. Denn es war schon immer spannender, Razzien in verrauchten Shisha-Bars zu filmen als Firmenakten nach Steuerhinterziehung zu durchforsten oder Lobbyisten zu fotografieren, die gerade wieder bei einem hochrangigen Politiker den Stöpsel von einer Geldschatulle haben knallen lassen.

Ach, wie wunderbar war es doch, in der Dämmerung auf Usedom am Strand zu wandeln …