24. Jahrgang | Nummer 17 | 16. August 2021

Der Hindukusch blutet

von Detlef Jena

The Great Game“ – Das große Spiel – nannte die internationale Diplomatie mit leichter Zunge den Konflikt zwischen Großbritannien und Russland, der die Afghanen von 1839 bis 1919 in drei mörderische Kriege gezerrt hat. 1839 entbrannte der „First Afghan War“ – der Erste afghanische Krieg – und währte bis 1842. Geheimdienstoffiziere beider Seiten hatten den Konflikt seit 1835 geschürt. Sie bedienten sich der Aggressivität des Schahs von Persien (Iran) sowie der permanenten Machtkämpfe zwischen afghanischen Stammesfürsten und forcierten die Spannungen bis zu einem Punkt, an dem der Öffentlichkeit ohne sichtbare Zeichen von Scham erklärt werden konnte, dass nur noch eine militärische Intervention dem afghanischen Volk Frieden und Glück bringen könnte.

Der britische Lord Auckland entmachtete am 1. Oktober 1838 den afghanischen Herrscher Dost Mohammed, der mit Russland sympathisierte, und ließ im Frühjahr 1839 die britische „Army of the Indus“ zur Bekräftigung seines Wunsches nach Frieden für die Afghanen in das Land am Hindukusch einrücken. Mit etwa 16.500 Soldaten und circa 35.000 Bediensteten und Familienangehörigen drang die Armee bis August 1839 kämpfend über Kandahar bis Kabul vor. Die Briten richteten sich häuslich ein, entließen Dost Mohammed gnädig ins Exil (vielleicht brauchte man ihn noch), reduzierten ihre Truppen und demonstrierten anheimelnde britische Kolonialdemokratie.

Am 9. Oktober 1841 griffen am Khoord-Kabul-Pass erstmals afghanische Aufständische britisch-indische Soldaten an. Sofort verstärkte eine Brigade die britischen Truppen in Dschalalabad und sicherte vor allem den Nachschubweg nach Indien. Politische Lehren zog die Obrigkeit nicht: Korruption in der einheimischen Verwaltung und die Arroganz der Kolonialoffiziere erhöhten den Organisationsgrad und die Intensität des Widerstands. Jede Schwäche der Besatzer wurde von den Aufständischen ausgenutzt. Im November 1841 belagerten sie bereits die britische Garnison in Kabul.

Ausbruchsversuche der Soldaten scheiterten. Die Ankunft von Mohammed Akbar, einem Sohn Dost Mohammeds, mit weiteren 6000 Mann in Kabul verschärfte die Situation.  Das Kräfteverhältnis stand Ende November 1841 bereits 1:6 gegen die Briten. Deren Kommandeur musste wohl oder übel kapitulieren: Die britische Soldaten durften Kabul eskortiert von Aufständischen räumen, mussten aber einige Offiziere als Geiseln zurücklassen.

Am 6. Januar 1842 begann der Rückzug unter Generalmajor Elphinstone. Die bunte Truppe aus 690 britischen und 2840 indischen Soldaten, die etwa 12.000 zivile Kriegsopfer sicher nach Dschalalabad führen sollte, wurde sofort nach dem Verlassen der Garnison angegriffen. Die versprochene Eskorte blieb aus. Man verhandelte wieder – ohne Ergebnisse. Und das, obwohl sich Elphinstone selbst als Geisel in die Hände der Aufständischen begab.

Am 8. Januar 1842 wurde der britische Tross beim Überqueren des Chaiber-Passes angegriffen. 3000 Männer, Frauen und Kinder starben. Das Gemetzel ging weiter: Am 12. Januar 1842 lebten von den rund 16.000 ausgerückten Menschen noch etwa 2300. Verzweifelt versuchten sie sich nach Dschalalabad durchzuschlagen. Die gemischten afghanischen Warlords, Stammesfürsten, Freischärler und Aufständischen kannten gegenüber den europäischen und indischen Eindringlingen keinerlei Erbarmen

Die letzten britischen Überlebenden – zwanzig Offiziere und fünfundvierzig Soldaten vom 44th East Essex Regiment – wurden am Morgen des 13. Januar in der Schlacht von Gandamak getötet oder gefangen genommen. Selbst wenn es wie eine erfundene mythologische Legende erscheinen mag: Lediglich dem britischen Militärarzt Dr. Brydon gelang am Nachmittag des 13. Januar 1842 die Flucht nach Dschalalabad.

Frische britische Expeditionsstreitkräfte starteten eine Gegenoffensive und eroberten bis zum Herbst 1842 die verlorenen Gebiete bis Kabul zurück. Wieder starben ungezählte Menschen. Die Geiseln aus Elphinstones Armee hatten sich inzwischen freigekauft. Nach der Einnahme von Kabul am 15. September 1842 erfolgte ihre Rettung. Zur Bestrafung Kabuls befahl der britische General Pollock die Zerstörung der Zitadelle und des Basars. Während der folgenden zwei Tage wurde Kabul von den Besatzungstruppen geplündert.

Doch vier Wochen später zogen sich die Briten überraschend und eilig nicht nur aus Kabul, sondern aus ganz Afghanistan zurück. Die Britische Ostindien-Handelskompanie war zu dem Schluss gelangt, dass eine fortgesetzte Besetzung innenpolitisch zu riskant und wirtschaftlich zu kostspielig war. Aber diese Sorge verging: 1878 begann der zweite britische Afghanistan-Krieg …