Lange zurück liegen die Zeiten, in denen Jarosław Kaczyński von einer sogenannten Verfassungsmehrheit träumen durfte, also von mindestens zwei Dritteln der Abgeordnetensitze im Sejm. 2015 und in den Folgejahren stimmte das Kaczyński-Lager immer wieder die verwegene Forderung an, das Land benötige unbedingt eine neue Verfassung, weil die alte von 1997 die Bevölkerung nicht genügend vor den Zumutungen Brüssels (und Berlins) schützen könne. Nachdem er an dieser allzu hohen Hürde gescheitert war, änderte Kaczyński gewitzt die Richtung. Seither spielte er sich ungeniert selbst als der beste Verfassungshüter auf, mochte die demokratische Opposition gegen Kaczyńskis Treiben auch noch so hartnäckig auf den freiheitlichen Verfassungsgehalt pochen. Alles Gerede über eine neue Verfassung hörte nun auf.
Den traurigen Höhepunkt dieser unglaublichen Vereinnahmung erlebte das Land im Oktober letzten Jahres, als die von Kaczyński eingesetzte Vorsitzende des Verfassungstribunals kurzerhand erklären ließ, dass der in der Verfassung verankerte Schutz des menschlichen Lebens der geltenden gesetzlichen Regelung beim Schwangerschaftsabbruch widerspreche. Nun taten die Regierenden so, als hätten die Verfassungsväter beim Gebot für den Schutz des menschlichen Lebens allein die strenge katholische Lehrmeinung befolgt. Der heftige Sturm der Entrüstung, der durch das Land fegte, brachte Kaczyński zwar nicht zu Fall, aber die Regierenden wissen seither, dass sie in wichtigen Wählersegmenten und insbesondere bei jüngeren Menschen auf verlorenem Posten stehen. Die Umfragen machen das bis heute deutlich.
Mit der Perspektive der turnusmäßig im Herbst 2023 anstehenden Parlamentswahlen, bei denen die Regierungsmacht zum zweiten Mal in Folge verteidigt werden soll, was bei Kaczyńskis Nationalkonservativen unter allen Umständen Alleinregierung bedeutet, wurde im Frühjahr dieses Jahres unter dem Namen „Polnische Ordnung“ ein Aufbauprogramm vor allem aus den nun üppiger fließenden EU-Mitteln beschlossen, das ab 2022 zügig umgesetzt werden soll. Um die dazu benötigten eigenen umfangreichen Haushaltsmittel sicherzustellen, wurde eine tiefgreifende Steuerreform avisiert, die ab 2022 hohe Einkommen und die Privatwirtschaft sehr viel stärker be-, die niedrigen Einkommen aber entlasten soll. Und in dem ganzen Paket eingeschlossen sind umfangreiche staatliche Kredithilfen für Wohnungskauf und Studium, um vor allem wieder an jüngere Wählerschichten heranzukommen. Eine Schlüsselstellung bei der Umsetzung kommt dem Wirtschaftsministerium zu, das bisher vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Jarosław Gowin geleitet wurde. Aus Sicht Kaczyńskis war das der Bock, der nun Gärtner sein sollte.
Gowin verstand sich vor allem als Vertreter wirtschaftlicher Vernunft in der Regierung, reagierte entsprechend und lehnte Kaczyńskis Steuerpläne glattweg ab. Letzterer nutzte nun schnell eine andere Gelegenheit, um dem Störenfried den Stuhl vor die Tür zu setzen, ihn aus der Regierung zu schmeißen. Nachdem Kaczyński bereits 2016 die öffentlich-rechtlichen Medien unter vollständige Kontrolle der Regierung gestellt hatte (mit dem hübschen Argument übrigens, die hätten den Menschen im Land die schwere Regierungsarbeit zu erklären), waren ihm die verbliebenen Privatmedien immer ein Dorn im Auge gewesen. Insbesondere galt das für die im Besitz eines US-amerikanischen Konsortiums befindliche Fernsehstation TVN, die mit ihrem vielgesehenen Nachrichtenkanal TVN24 zum bevorzugten Medium der versammelten Opposition wurde oder werden musste, weil im Regierungsfunk kaum noch Platz gelassen wurde für dieselbe. Die laufende Zehnjahreslizenz für TVN läuft im September dieses Jahres aus, was Kaczyński zusätzlich antrieb, nun in wohlbekannter Weise an der Gesetzeslage herumzubasteln. Künftig, so will es Warschaus starker Mann, dürfen Medienkonzerne von außerhalb des Europäischen Wirtschaftstraums nur noch maximal 49 Prozent des Stammkapitals in Medienhäusern in Polen besitzen. Alle Welt in Polen wusste, dass sich dieser Schachzug ausschließlich gegen TVN beziehungsweise TVN24 richtet, also gegen das herausragende Sprachrohr der Opposition. Auch hier stellte sich Gowin als einer der wenigen im nationalkonservativen Lager entschieden entgegen, verwies insbesondere auf die strategische Bedeutung der Beziehungen zu Washington, pochte überdies auf wirtschaftliche Freiheit und ein wenig auch auf Meinungsfreiheit.
Bevor die Sejm-Mehrheit das Gesetz am 10. August durch die Instanz peitschen sollte, zog Kaczyński die Reißleine, schasste den verhassten Mann, riskierte dabei aber den Verlust der eigenen Mehrheit. Die Abstimmung über das neue Mediengesetz wurde zur Probe aufs Exempel – und Kaczyński kam mit einem blauen Auge davon. Zunächst allerdings scheiterte er überraschend, denn ein Antrag der Opposition auf Verschiebung der Debatte in den September bekam eine Mehrheit! Doch Kaczyńskis Leute setzten sich schnell über alle Regeln hinweg, weil der „Chef es so wünscht“, erkannten das Ergebnis also nicht an und setzten eine weitere Abstimmung durch. Jetzt bekamen sie die erhoffte Mehrheit, weil vier Abgeordnete im rechtspopulistischen Spektrum plötzlich meinten, sie hätten sich beim ersten Mal geirrt.
Während Kaczyński mit Gowins Rausschmiss den gemäßigt-konservativen Flügel im Regierungslager gekappt hat, muss er sich künftig ins Rechtsaußenlager öffnen, was neue und wohl ungeahnte Schwierigkeiten für den Kurs des Regierungsdampfers bringen wird.
In der Sejm-Debatte am 10. August steigerte sich einer der Kaczyński-Vertrauten in seiner Wut über die demokratische Opposition in die irrsinnige Behauptung, selbige stünde bei der Verteidigung von TVN wie immer im Lager der Gegner Polens. Später ruderte der gleiche Mann zurück, indem er erklärte, das neue Gesetz richte sich mitnichten gegen die USA. Überraschend kündigte er an, dass die Regierung das Gesetz nachbessern werde, so dass auch die US-Amerikaner schließlich zufrieden sein dürften.
Kaczyński hat sich noch einmal als starker Mann im Lande beweisen wollen, das außenpolitisch zerschlagene Porzellan nimmt er billigend in Kauf. Allerdings ist der Schaden für das Regierungslager, den er mit seinem störrischen Manöver angerichtet hat, nicht zu übersehen. Von vorzeitigen Neuwahlen wollen die Nationalkonservativen im Augenblick nichts hören, sie setzen voll auf die 2023 wirken sollende „Polnische Ordnung“. In der Opposition hingegen wird vom „feigen Staatsstreich“ gesprochen, der die anhaltende Schwäche und die aufkommende Angst im Regierungslager offenbare.
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