24. Jahrgang | Nummer 15 | 19. Juli 2021

Stagnierende Angleichung

von Ulrich Busch

Kurz vor der Sommerpause legte die Bundesregierung schnell noch ihren diesjährigen „Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit“ vor. Der Bericht und die Debatte darüber wurden von der Öffentlichkeit aber kaum wahrgenommen und von den Medien weitestgehend ignoriert. Die Gründe dafür sind in der Dominanz anderer Themen, wie dem Bundestagswahlkampf, der Diskussion um die Lockerung der Corona-Maßnahmen und der Fußball-Europa-Meisterschaft, zu suchen. Aber auch im Bericht selbst, der insgesamt nicht viel Neues bietet. Inhaltsleere Erfolgsrhetorik und demonstrativer Optimismus wechseln mit der ermüdenden Aufzählung von Einzelmaßnahmen, leere Versprechungen mit Banalitäten und Rechtfertigungsversuchen für ausgebliebene Resultate. Auffällig ist, dass die Aussagen im Text nur selten mit den statistischen Daten im Anhang übereinstimmend korrespondieren. Vielmehr konterkarieren diese oftmals die vollmundigen Erklärungen im verbalen Teil. Dies zu erkennen, setzt voraus, dass man bestimmte Aussagen kritisch hinterfragt und sich die Daten dazu genau anschaut.

Im Bericht wird herausgestellt, dass „gleichwertige Lebensverhältnisse und gute Startbedingungen in allen Teilen des vereinten Deutschlands […] Zukunftsfähigkeit auf dem Weg in eine nachhaltige Entwicklung garantieren“ und daher „heute der Maßstab für die Bewertung des Stands der Deutschen Einheit“ sind. Die Grundlage dafür bildet die Entwicklung der Wirtschaft. Hier aber klafft auch einunddreißig Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit immer noch eine beträchtliche Lücke von 30 Prozent zwischen Ost und West. Und diese Lücke, so der aktuelle Befund, wird im Zeitverlauf kaum kleiner, was nichts anderes heißt, als dass der wirtschaftliche Konvergenzprozess mehr oder weniger stagniert. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner lag in den neuen Ländern zuletzt bei 70 Prozent des Wertes der alten Länder. 2019 waren es 69 Prozent, 2018 68 Prozent. Dieser Wert wurde aber auch schon 2014 erreicht, nachdem er 2012 knapp 67 Prozent und 2010 etwa 66 Prozent betrug. Im Jahr 2000 lag der Wert bei 60 Prozent, 1990 etwa bei 55 Prozent. Dies bedeutet, dass der Osten bei der Wirtschaftsleistung gegenüber dem Westen in 30 Jahren rund 15, in den letzten 20 Jahren etwa zehn und in den zurückliegenden zehn Jahren nur noch etwa vier Prozentpunkte aufgeholt hat. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Bei der Interpretation dieser Daten ist zudem zu berücksichtigen, dass der Fortschritt zuletzt allein darauf zurückzuführen war, dass die alten Länder stärker unter der Corona-Krise zu leiden hatten (-5,1 Prozent) als die neuen (-4,0 Prozent).

Berufsoptimisten mögen aus den genannten Daten einen positiven Trend ableiten. Denn danach könnten die neuen Länder wirtschaftlich zu den alten Ländern in sechzig oder siebzig Jahren aufschließen. Voraussetzung dafür wäre jedoch, dass im Osten jedes Jahr mindestens ebenso viel investiert werden würde wie im Westen. Genau hier aber liegt das Problem. Geht man der Frage nach, wie sich die Investitionen in Ost und West im zurückliegenden Zeitraum entwickelt haben, so stößt man auf das Gegenteil dessen, was notwendig wäre, um das Konvergenzziel zu erreichen. Man muss kein ausgebildeter Ökonom sein, um zu wissen, dass eine Zunahme der wirtschaftlichen Leistungskraft in der Zukunft entsprechende Investitionen in der Gegenwart voraussetzt. Die fehlen hier aber ganz offensichtlich beziehungsweise sind viel zu gering.

Die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen der Länder belegen, dass die Investitionen in der Gesamtwirtschaft wie im Verarbeitenden Gewerbe je Einwohner in Ostdeutschland signifikant niedriger sind als in Westdeutschland – und das seit 1990, ganz besonders aber in den letzten zehn Jahren, in denen die Schere zwischen Ost und West noch einmal deutlich weiter aufging. Zuletzt lag das Investitionsvolumen pro Kopf im Westen gesamtwirtschaftlich bei 5064 Euro, im Osten aber nur bei 3034 Euro, also bei 60 Prozent des Westniveaus. Im Verarbeitenden Gewerbe war das Verhältnis mit 50 Prozent sogar noch ungünstiger. Und selbst bei neuen Bauten überstieg der westdeutsche Wert mit 4303 Euro den ostdeutschen von 3472 Euro beträchtlich. Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Der Osten bleibt auf Jahrzehnte wirtschaftlich abgehängt, finanziell vom Westen abhängig, sozial und kulturell zurück. Die ökonomischen Fundamentaldaten lassen keinen anderen Schluss zu. Und wo ein solcher doch versucht wird, erweist er sich als bloße Rhetorik oder populistisches Wahlmanöver.

Natürlich stellen „regional ausgeglichene soziale, infrastrukturelle, wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Verhältnisse und der dazu erforderliche Ausgleich räumlicher und struktureller Ungleichgewichte“, wie es im Bericht heißt, auch weiterhin ein politisches „Ziel“ der Bundesregierung dar. Aber steht nicht die Herstellung „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in Deutschland sogar im Grundgesetz? Ebenso wie die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, der Ausschluss von jeglicher Diskriminierung, die Meinungsfreiheit, die Berufsfreiheit, die Sozialpflichtigkeit des Eigentums und anderes mehr. Die Ziele sind das eine, die konkrete Wirklichkeit etwas anderes. Deshalb wird im Bericht auch vorgebaut, indem betont wird, dass es „nicht um gleiche, sondern um gleichwertige Lebensverhältnisse“ gehe, was bedeutet, dass „auch die Unterschiedlichkeit von Regionen hinzunehmen“ sei. – Nun ja, in bestimmtem Maße ist dies unvermeidlich, aber hier geht es um beträchtliche Niveauunterschiede, um grundlegende wirtschaftliche und soziale Diskrepanzen zwischen den Landesteilen und nicht um marginale Differenzen oder kulturelle Besonderheiten.

Vielleicht sollte man nach mehr als dreißig Jahren deutscher Vereinigung anfangen zu fragen, ob die sich bis heute auftuende Kluft zwischen West und Ost nicht Ursachen hat, die jenseits der DDR und der Vorgeschichte des vereinigten Deutschlands zu suchen sind, nämlich im Vereinigungsprozess selbst, und die folglich auch „kein Kollateralschaden einer radikalen Transformation“ sind, sondern Konsequenz derselben: „Dies war sicher nicht verabredet, aber darauf angelegt, dass es ausging, wie es kam.“ (Lutz Herden) – Die kritische Lektüre des aktuellen Jahresberichts zum Stand der Deutschen Einheit bietet nicht wenige Beispiele, um zu erkennen, dass keineswegs Alles, aber eben doch sehr Vieles darauf angelegt war, dass es ausging, wie es kam! Die ökonomischen Daten bilden dabei selbstverständlich nur einen Aspekt. Letztlich ist dies aber der entscheidende.