24. Jahrgang | Nummer 14 | 5. Juli 2021

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Die Wildente“ – Deutsches Theater / Grand Show ARISE – Friedrichstadt-Palast / Gedenken an den großen Regisseur Adolf Dresen

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„Das Leben wäre nicht möglich ohne etwelche Beschönigung durch wärmenden Gemütstrug, ‑ gleich darunter aber ist Eiseskälte. Man macht sich groß und verhasst durch Eiseswahrheit und versöhnt sich zwischenein, versöhnt die Welt durch fröhlich-barmherzige Lügen des Gemüts.“ Gut gesagt. Vom alten Goethe; Thomas Mann hat‘s ihm in den Mund gelegt, im siebenten Kapitel von „Lotte in Weimar“. „Die Wahrheit ist zumutbar“, schrieb Ingeborg Bachmann später und weniger rücksichtvoll.

Henrik Ibsen, in seinen packenden Dramen dauerhaft befasst mit der wuchernden Amoralität der bürgerlichen Gesellschaft, mit der Gier und der Feigheit, die Menschen in Abgründe stürzt, Ibsen rückt das seit jeher schwierige, zwischen Fluch und Segen changierende Thema Wahrheitsfindung in seinem Stück „Die Wildente“ (1884) mit einer erschütternd grausamen Geschichte in den Mittelpunkt. Was bei Thomas Manns Goethe-Figur Lebensbeschönigung durch Gemütstrug heißt, ist bei Ibsen die Lebenslüge, deren Zerstörung durch „Wahrheitsfanatiker“ im „Rechtschaffenheitsfieber“ letztlich Leben kaputt machen kann.

Es geht um zwei Familien, die Werles und die Ekdals – alles Täter, verbandelt durch kriminelle Machenschaften, Schuld und Mitschuld, Feigheit, soziale Nöte und Korruption. Der wirtschaftskriminelle Konsul Werle zwingt die armen und abhängigen Ekdals mit reichlich Geld zum Stillhalten, Mitmachen, Schweigen über all die mit den Jahren zwar schlimmen, doch wohlverpackten Wunden und gut versteckten Leichen in den Kellern. Das Aufrechterhalten der Lebenslüge wird zur „Lebensmedizin“. Bis da jemand auftaucht, sich als rechtschaffender Idealist geriert und den „wärmenden Gemütstrug“ der Ekdals brutal fortbläst.

Die Medizin wird vergiftet durch einen unversöhnlichen Willen zur Eiseswahrheit als vermeintliche Grundlage für einen „moralischen Neuanfang“. Das ohnehin fragile Familienleben der Ekdals zerbricht. Aber das einzige wirkliche Opfer ist Hedvig Ekdal; die Frucht eines Verhältnisses zwischen dem steinreichen Unternehmer Werle und seiner Bediensteten Gina Ekdal (Judith Hofmann), der wiederum die Ehe mit Hjalmar Ekdal (Paul Grill) stiftete, damit beide ihm das Kind als ehelich unterschieben können.

Hedvig (Linn Reusse), durch eine fortschreitende Augenkrankheit sonderlich sensibel und halbblind, spürt hellsichtig die häuslich subkutane Missstimmung. Den Mangel an Liebe und Wärme kompensiert sie durch anrührende Pflege einer waidwund im Seeschlamm aufgefundenen Wildente, die sie in einem Glaskasten, zärtlich auf ein Kissen gebettet, mit sich herumschleppt.

Als dann der Wahrheitsfanatiker überraschend auftaucht, es ist Werles Tochter Gerdis (Anja Schneider), um nach langer Zeit den angstvoll abgedeckten Familienschlamm unbarmherzig hoch zu kochen, erschießt sich das Mädchen. Ihm war die Wahrheit nicht zumutbar. Ohne Lebenslügen kein Weiterleben.

Was für eine ergreifende Geschichte – von John von Düffel klug komprimiert. Stephan Kimmig inszenierte sie gekonnt als kühle Demonstration eines Laborversuchs in einem klinisch weißen Kasten (Bühne: Katja Haß). Die Figuren, alle gekleidet ganz in Weiß, agieren – bis auf die verstörte, ahnungsvolle Hedvig – in einer raffinierten Mischung aus Einfühlung und neurotischer Überzeichnung. Man schüttelt den Kopf über so viel Wahnsinn. Über all die elenden Schuld-Verstrickungen. Zugleich aber ist man zutiefst bestürzt: Die an allem unschuldige Hedvig, das arme Kind.

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Ein total verrückter Fotograf, ein Abenteurer, ein Tausendsassa namens Cameron jagt gemeinsam mit seiner identitär nicht gänzlich festgelegten Muse glückselig um die Welt. Doch dann passiert‘s: Cameron verliert den geliebten Musenmenschen, mithin sein Glück. Was bleibt, sind Fotos, das Archiv seiner grandiosen Vergangenheit. Doch im Blick zurück, beim Anschauen der betörenden Bilderflut erwachen Camerons Aufnahmen zu neuem Leben. Spenden Trost und neues Glück.

Was für eine wundersame, dennoch dem wirklichen Leben nicht ganz fremde Geschichte über Liebe, die stärker ist als die Zeit. Und die den Stoff liefert für eine neue Show – Titel: ARISE ‑, mit der das Gute-Laune-Kraftwerk Friedrichstadt-Palast nach VIVID und Corona-Pause seine Wiedereröffnung im Sommer feiern wird – wenn alles gut geht. Freilich, es bleibt traurig, dass  die VIVID-Show (siehe Blättchen 1/2019) nach nur 17 Monaten Spielzeit der Pandemie zum Opfer fiel ‑ immerhin, sie hatte 700.000 Zuschauer.

Man darf getrost sagen, ARISE, das englische Wort für aufstehen, sich erheben, trägt ein Konzept, das sehr gut ins Gegenwärtige passt. Jede Veränderung zum Guten, jedes Happy-End, so die philosophisch grundierte Palast-Botschaft, beginne mit dem Glauben daran, dass am Ende das Licht stärker sei als die Dunkelheit. Selbstredend kommt die dramaturgische Theorie in der theatralen Praxis mit allen Schikanen verpackt – Kostenpunkt: elf Millionen Euro ‑ auf die weltgrößte, mit High-Tech vollgestopfte Bühne. Motto: Überwältigen, verzaubern! Mit mehr als hundert mitwirkenden Künstlern aus 26 Nationen. Sogar das berühmte Wasserbecken spielt nach acht Jahren Pause wieder mit.

Die Voraufführungen beginnen am 7. August. Tickets ab 19, 80 Euro im Vorverkauf. Hotline 030-2326.2326. Der Premierentermin wird noch bekannt gegeben.

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Vor zwei Jahrzehnten, am 11 Juli 2001, starb Adolf Dresen in Leipzig an einem Gehirntumor. Er wurde 66 Jahre alt.

„Der Künstler liefert ein ganzes, kohärentes, in sich stimmiges Werk – oder er liefert überhaupt keine Kunst. Nicht die Welt stimmt dann in seinem Werk, es stimmt vielmehr mit der Welt überein. Es entdeckt die Wahrheit… Man muss die Stücke nur richtig lesen. Doch gibt es viel zu viel inszenierte Sekundärliteratur“, schrieb der Regissseur Alfred Dresen, da war er um die sechzig und hatte bereits ein Lebenswerk geliefert.

Es begann nach dem Germanistikstudium in Leipzig bei Hans Mayer auf der Bühne im vorpommerschen Greifswald mit einem aufmüpfig grübelnden „Hamlet“, der die örtliche SED-Kulturbürokratie ärgerte und prompt verboten wurde. Aber sofort überregionales Interesse auf sich zog. Besonders die Hauptstadt blickte neugierig nach Norden.

Und Wolfgang Heinz, Prinzipal des Deutschen Theaters Berlin, dem ersten Haus im Lande, der hohe Herr selbst also war es denn auch, der über den Verdammten schützend seine Hände hielt, ihn an seine Bühne band. Was wieder Ärger brachte mit der Zensur. Man rieb sich an seinen herausfordernd zeitnahen Klassiker-Inszenierungen. „Wenn Theater gut ist, muss es Opposition nicht machen, dann ist es Opposition. Die Stücke sind entweder im Kern aktuell, oder man soll Gegenwartsstücke spielen“, meinte Dresen. Für ihn galt: Respekt vor dem Werk! Ganz klassisch ‑ und heutzutage altmodisch.

1977 verließ Adolf Dresen die DDR, nachdem er sein SED-Parteidokument an der Pforte des Deutschen Theaters abgegeben hatte und mit einem allzu genau gelesenen „Faust“ selbst ganz hoch oben nicht durchgekommen war. „Man konnte dieser Zensur nicht ausweichen, auch deshalb waren wir gegen diese reale DDR und glaubten an eine andere, wie sie in unseren Büchern stand.“

Dresen, der sich selbst politisch links einordnete, sah sich – wohl gerade deshalb – als Konservativer. Dazu gehörten Mut, Können und ein gerüttelt Maß Individualismus im Sinne Kants: „Das autonome Individuum charakterisiert die Fähigkeit zum eigenen unabhängigen Urteil.“

Dem Neuen mit Freude am Widerspruch zugetan, mit Lust an der Veränderung, doch dabei strikt sich haltend an gültige alte Weisheiten. So wurde Dresen Schauspieldirektor in Frankfurt am Main, scheiterte dort am linksradikal diktatorischen so genannten Mitbestimmungsmodell, arbeitete am Burgtheater Wien und wandte sich schließlich dem Musiktheater zu, inszenierte an den großen Opernhäusern Europas.

Und auch dort, im Westen, blieb er selbstredend seiner künstlerischen Grundeinstellung treu: Die Verweigerung, Stücke zu aktualisieren (was er geradezu „hasste“), sowie die Notwendigkeit, sie historisch zu verstehen – dies nämlich sei das beste Training, die eigene Zeit nicht als fest gemauert hinzunehmen. Sondern sie – Distanz! – historisch zu sehen.