24. Jahrgang | Nummer 13 | 22. Juni 2021

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: Tonnenweise Zynismus ‑ „Das Leben des Vernon Subutex 1“; Schaubühne / Geplapper und Gehopse: „It’s Going To Get Worse“; Gorki Theater / Der große Traumerfinder: Gedenken an Klaus Michael Grüber

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Endstation Pappkarton. Die Pappe draußen unter Brücken. Mit Dosenbier und Tütensuppe. Ein Clochard in Paris. Dabei hat Vernon Subutex (50) schon bessere Zeiten gesehen. Denn damals, vor 30 Jahren, da war er Besitzer des prominenten Plattenladens „Revolver“ mit Kundschaft und Kontakten von unterster Rockszene bis rauf in die hippe Bourgeoisie. Geld, Sex, Drogen, Musik, Party – alles war reichlich. Doch dann kam das Digitale. Und der Abstieg. Die einen tun, was man tun muss, doch Subutex, der gutmütige Schlacks mit fettig-filzigem Nackenhaar, total cool, total ehrgeizlos, ließ es verwundert laufen und laufen. Nun ist die Party vorbei, das Geld alle, Sex und Drogen bloß noch ein bisschen.

Subutex der Verweigerer, Nicht-Mitschwimmer, der aber dennoch gelegentlich alte Kontakte mürrisch sucht: Um ein bisschen zu schnorren, zu vögeln, besser zu futtern und zu schlucken. Um mal wieder in einem richtigen Bett zu liegen. Bei Leuten von früher, die längst wissen, was zu tun ist, um im zunehmend brutaler werdenden Überlebenskampf einigermaßen zu bestehen oder gar – auf welche Weise auch immer – ordentlich Knete zu machen.

Es sind miese Trickser, clevere Anpasser, intrigante Um- und Aufsteiger. Lauter Verlogene, Verbogene, Verkrümmte, leicht bis schwer Verletzte. Was da einst womöglich ehrlich rockte, also Vernons „Revolver“-Kundschaft von damals, das hat inzwischen ausgerockt. Klebt an der „Likes-Kultur“, hat Träume wie Ideale beiseite geschmissen, Egos brutal aufgepumpt.

Es ist ein grau oder grell kostümierter Haufen Zynismus, der da jetzt an Subutex vorüber paradiert. „Jeder auf Jagd nach seinem Nugget.“ – Unser nicht unsympathischer, klebriger und aus der Zeit gefallener, die Staats-Stütze verhöhnender ewiger Altrocker (Joachim Meyerhoff) kommt aus dem Staunen nicht heraus: Widerwärtig! Aber er bleibt draußen im Regen. Auf seiner Pappe.

Es ist dieses weit gespannte Typen-Panorama einer immer tiefer zwischen unten bis oben, zwischen links und neuerdings zunehmend rechts sich spaltenden Gesellschaft mit ihren politisch-ideologischen Dominanten sowie den dazu gehörigen sozialen Milieus, das die französische Star-Autorin Virginie Despentes („Baise-moi“, „King Kong Theorie“) in ihrer Roman-Trilogie „Das Leben des Vernon Subutex“ facettenhaft aufblättert (auf 1200 Seiten). Und das den Regisseur Thomas Ostermeier so fasziniert. Und zur theatralen Adaption des (vorerst?) ersten Teils reizte.

Aber. Ostermeier hat mit „Subutex“ Schwierigkeiten: Es ist die schier endlose Schnipsel-Struktur der Dramaturgie.

Freilich, die kollektive Textfassung der Übersetzung von Claudia Steinitz findet ein lapidar hingerotztes Deutsch. Und das selbstverständlich erstklassige Ensemble fasziniert im Disparaten: Der rassistische Drehbuchautor, der Ex-Punk, jetzt taffer Staatsbeamter, die Porno-Ratte, der liberale Moslem mit fundamentalistischer Tochter. Oder die spießige Bürofrau, der koksende Börsenspekulant mit Eure-Armut-kotzt-mich-an-Sprüchen oder der den Kulturbetrieb hassende Intellektuelle. Lauter auf die Drehbühne hin geschnipselte Kabinettstückchen mit tonnenweise ausgeschüttetem Zynismus. Lauter kleine treffliche Gegenwartsdiagnosen.

Und die Bühne, die kreist und kreist und kreist wie der bedrohliche rote Neon-Revolver oben an der Decke um das Immergleiche: Ums Auskotzen von Menschenverachtung, Wahn und Wut. Hysterie und höllischer Sarkasmus als Dauerzustand eines Nummernprogramms. – Und eben das ist das Problem der trotz allen Irrsinns zunehmend länglicher werdenden Vier-Stunden-Veranstaltung. Wäre da nicht zum Luftholen zwischendurch die krachende Band mit ihren guten alten Klassikern des Punk und Rock.

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Trompetenstarke Ansage: „It’s Going To Get Worse“ von Ersan Mondtag & Ensemble unter Regie von Mondtag! – Zu erleben ist eine grellbunte Glitzer-Revue mit Benny Claessens, Orit Nahmias und Kate Strong, die sich mit hohem tänzerisch-akrobatischen Einsatz bemühen, die dicke Rampensau rauszulassen. Man will unterhalten, amüsieren, ein bisschen provozieren, viel Spaß machen und obendrein tiefgründig sein. Im Prinzip Boulevard – wie eigentlich in jedem Theater.

Nur, kaum jemand im Publikum begreift hier, worum es auf der zirkushaft grell illuminierten Drehbühne eigentlich geht. Etwas besser sind freilich diejenigen dran, die gut Englisch können. Gut 90 Prozent der atemlos monologischen Wortbandwürmer kommen nämlich auf Englisch (freilich, kleine Monitore am Proszenium übersetzen). Denn das Gorki sei schließlich, tut mir leid, ein internationales Theater, verkündet Benny zwischen allerlei Singsang im wild berüschtem rosa Tuntenkostüm (Diversity?) am heftig behämmerten Pianoforte.

Der teils verquast improvisierte Text könnte, wir ahnen es, mit unglücklichen privaten Lebenserfahrungen der drei Künstler*Innen zu tun haben. Sie quatschen halt alle nacheinander mal so drauf los, was gerade so durch die kummervolle Rübe rauscht. Und was da in all den elenden Jahren seelisch so alles abgegangen und eingeschlagen haben könnte. Nach dem Motto „Nichts wird besser, alles wird schlechter“. Wirklich nachvollziehbar wird jedoch nix. Empathie ausgeschlossen. Und es hat auch nichts mit dem Publikum zu tun. Doch das selbstbezügliche Geplapper, Gehopse, Geklimper dauert eitel-frech zweieinhalb Stunden.

Immerhin, der Theater-Werbetext sagt: Mondtag, ein allseits gehypter Regiestar, baue ein kühnes assoziatives Untergangsszenario, beschreibe das ewige Dilemma der autoritären Herrschaft und außerdem die Schwierigkeit der Emanzipation, die melodramatisch untergehe in der Knechtschaft des Seins aufgrund imaginärer oder realer Autoritäten. Singend, tanzend und weinend werde von Momenten der Einsamkeit und den inneren Ruinen erzählt. – Uff!

Was für eine Ansage, dazu könnte man ganze Shakespeare-Zyklen inszenieren. Bei all der modisch gespreizten Performerei: Ein Minimum an Dramaturgie und Regie (Theaterhandwerk!) bleibt doch wohl noch immer und ganz altmodisch unerlässlich. Hier wurde – wieder einmal – arrogant darauf verzichtet. Und unfreiwillig die Frage aufgeworfen: Was soll das Theater?

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Er galt als Metaphysiker der Bühne, als der große Außenseiter, der das Rätsel zur Quintessenz seines Schaffens erhob. Knallige Effekte waren ebenso wenig seine Sache wie vordergründige Diktionen. Als Klaus Michael Grüber 1982 zu Goethes 150. Todestag an der Freien Volksbühne den ersten Teil des „Faust“ inszenierte, bekam das Publikum fast gar nichts mehr zu sehen. Der Text war auf drei Personen zusammengestrichen. Bernhard Minetti in der Titelrolle grummelte vor sich hin, als käme es schon nicht mehr drauf an, die Bekenntnisse von Faustens Verzweiflung noch einmal zu wiederholen. Düster und karg bis zur Askese verweigerte sich diese Inszenierung dem Auge und wehte mitten im Lärm der Gegenwart die Trauer um menschliche Begrenztheit wie düstere Nebelschwaden über die Szene.

Seit Anfang der 1970er Jahre arbeitete Grüber hauptsächlich in Berlin; vor allem an der Schaubühne, der er sich bis zum Ende der Ära Peter Stein verbunden fühlte. „Wenn er mein Freund gewesen wäre“, so Stein, „dann wäre ich sehr froh; aber ich weiß es nicht. – Er war die Diva, die umworben werden musste. Und ich war der Kritiker, der mit den Großen pinkeln wollte.“

Groß und unvergessen von den Berliner Arbeiten bleibt vor allem seine „Winterreise“ nach Hölderlins Briefroman „Hyperion“, die K.M.G. 1977 im Olympiastadion in Szene setzte. Eine wunderbare Elegie über die Größe der Liebe und die Unentrinnbarkeit vor dem Unglück. Dieser Regisseur hielt die Zeit an, quälte sich und die Zuschauer konsequent durch das Jammertal des Humanen. – Eins seiner seltenen Selbstbekenntnisse: „Mein Traum von Theater ist wahrhaftige Ergriffenheit.“

Es kommt nicht von ungefähr, dass der Pfarrerssohn aus dem deutschen Südwesten, 1941 am Neckar geboren, vor allem in Frankreich außerordentlich erfolgreich war. Als erster Deutscher hat er in Paris an der Comédie Francaise inszeniert, 1984 Racines „Berénice“. Sein dunkler Hang zur Metaphysik, so die Kritik, wurde hier aufgefangen von der Formenstrenge und der wohlkalkulierten Klarheit französischen Esprits. Er habe erkannt, so K.M.G., dass man auch in Alexandrinern weinen könne.

K. M. Grüber starb am 23. Juni 2008 in Frankreich; am 4. Juni hätte das europäische Theater seinen 80. Geburtstag gefeiert.