24. Jahrgang | Nummer 13 | 22. Juni 2021

Ein Kapitel Familiengeschichte

von Mathias Iven

Es gibt kaum eine Familie, deren Geschichte so gut erforscht ist, wie die der Manns. Und doch haben wir noch die eine oder andere Facette, die eine nähere Betrachtung verdient. Dazu gehört beispielsweise das breit gefächerte und bisher meist nur am Rande betrachtete Beziehungsgeflecht, das fast alle Familienmitglieder mit der ehemaligen, 1918 gegründeten Tschechoslowakei verband. Peter Lange, seit 2016 ARD-Hörfunkkorrespondent in Prag, hat dieses Thema in den Blick genommen. Herausgekommen ist ein Buch, so spannend wie ein Roman.

Die wohl engste Verbindung zu den Tschechen und zur Tschechoslowakei hatte Heinrich Mann, der in erster Ehe mit der in Prag geborenen Schauspielerin Maria Kanová verheiratet war. Kennengelernt hatten sich die beiden im Februar 1913 – unter welchen Umständen, ist bis heute umstritten. Im darauffolgenden Jahr bezogen sie eine gemeinsame Wohnung in München, wo sie am 27. August 1914 heirateten. Schon zu Beginn der Zwanzigerjahre wurde die Beziehung zunehmend schwieriger, seit 1928 lebte man getrennt: er in Berlin, sie mit der 1916 geborenen Tochter Leonie in München. Am 5. Juni 1930 wurde die Ehe schließlich geschieden.

Heinrich Mann war zwar bemüht, den Unterhalt seiner geschiedenen Frau und Tochter zu sichern, doch die Situation spitzte sich immer mehr zu. Anfang 1934 waren die Mietrückstände für die Münchner Wohnung so hoch, dass eine Pfändung bevorstand. Maria Mann wandte sich daraufhin an den tschechischen Staatspräsidenten Tomáš Masaryk und bat ihn um Hilfe. Es ginge vor allem um die Bibliothek ihres Mannes und dessen Archiv, das sie dem tschechischen Staat im Gegenzug schenken wolle. Masaryk, der Heinrich Mann im Januar 1924 persönlich kennengelernt hatte, entschied, dass die gesamte Habe der Manns auf Kosten des tschechoslowakischen Staates umgehend nach Prag gebracht werden sollte. Am 19. Oktober 1934 bedankte sich Heinrich Mann in einem Gespräch mit dem Leiter der Präsidentenkanzlei für die Hilfe Masaryks. Und nicht nur das. In der für den Präsidenten ausgefertigten Aktennotiz wurde festgehalten: „Am Ende führt er an, er würde gern hiesiger Staatsbürger werden.“

Grundsätzlich sprach nichts dagegen, einzige Voraussetzung: eine tschechische Stadt musste ihm das Heimatrecht zuerkennen. Heinrich Mann, dem im August 1933 die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt worden war, versuchte es zunächst in Reichenberg, zog jedoch seinen Antrag wegen der sich dort anbahnenden Schwierigkeiten zurück. Seine Enttäuschung darüber legte er in einem Offenen Brief dar, der Anfang Juli 1935 sowohl im Pariser Tageblatt als auch im Prager Tagblatt veröffentlicht wurde. Diesen Brief las der Kaufmann Rudolf Fleischmann, Abgeordneter im Stadtparlament von Proseč, einem kleinen Ort, rund 150 km östlich von Prag. Fleischmann sollte und wollte Heinrich Mann helfen. Für den 21. August 1935 wurde eine vertrauliche Sitzung des Prosečer Stadtrates anberaumt: mit neun von 15 Stimmen wurde Heinrich Mann das Heimatrecht zuerkannt. Bis zum endgültigen Abschluss des Verfahrens verging jedoch noch einige Zeit. Erst am 24. April 1936 leistete der Exilant auf dem Generalkonsulat der Tschechoslowakei in Marseille den Eid auf sein neues Heimatland. – Heinrich Mann starb am 12. März 1950 als tschechoslowakischer Staatsbürger in den USA. In Proseč ist er nie gewesen.

Fleischmann setzte sich auch für die Einbürgerung von Thomas Mann ein. Als Teilnehmer einer Abordnung aus Proseč war er im Mai 1936 zu Gast bei Edvard Beneš, der nach dem Tod von Masaryk zum neuen Staatspräsidenten gewählt worden war. „Plötzlich“, so erinnerte sich Fleischmann später, „wandte er sich an mich und sagte, er sei sehr gut darüber informiert, was wir für Heinrich Mann getan hätten. Ich solle doch bitte Thomas Mann aufsuchen und ihm sagen, dass es sein – Beneš’ – Wunsch sei, dass auch Thomas Mann Staatsbürger der Tschechoslowakei werde.“

Drei Monate darauf, am 6. August 1936, fand in Küsnacht ein Treffen zwischen Fleischmann und Thomas Mann statt, der seinem Tagebuch anvertraute, Fleischmann sei ein „rührender Mann der mit heiligem Eifer und ,historischer‘ Feierlichkeit meine und der Meinen Ehren-Einbürgerung betreibt“. Bereits am 18. August wurde Thomas und Katia Mann, sowie ihren Kindern Michael, Elisabeth und Golo vom Prosečer Stadtrat das Heimatrecht verliehen, dem Antrag von Klaus hatte man schon am 3. August zugestimmt. Für Erika, die zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Kabarett Pfeffermühle auf Gastspielreise in der Tschechoslowakei war, stellte die Frage der Staatsbürgerschaft kein Problem dar, da sie seit ihrer Scheinheirat mit dem Schriftsteller Wystan Hugh Auden einen britischen Pass hatte. Und auch ihre Schwester Monika musste sich keine Sorgen machen. Sie lebte seit 1934 in Italien, wo sie ihren späteren Mann Jenö Lányi kennenlernte.

Am 1. Oktober 1936 hatte die Unsicherheit ein Ende, Thomas Mann hielt fest: „Nach Tische teleph. Anruf Fleischmanns aus seinem tschechischen Heimatort: Bestätigung, daß die Einbürgerung, von heute datierend, vollzogen.“ – Anders als sein Bruder Heinrich sollte er Proseč am 12. Januar 1937 einen Besuch abstatten.

Wie es danach weiterging, was aus Rudolf Fleischmann wurde, welche Beziehungen andere Familienmitglieder zur Tschechoslowakei hatten und wie es in Proseč heute aussieht – all das hat Peter Lange gleichfalls erforscht und umfassend dokumentiert. Jindřich Mann, der Sohn von Heinrich Manns einziger Tochter und Autor der 2007 unter dem Titel „Prag, poste restante“ veröffentlichten Geschichte seiner Großmutter Marie und seiner Mutter Leonie, schreibt in seinem Vorwort: „Da Peter Lange ein Journalist ist, fabuliert er nicht. Er bleibt sachlich, nicht unengagiert, mit einer gewissen herzwarmen Kühle. Ein Abstand, der die Nähe herstellt.“ Und diese Nähe spürt man auf jeder Seite des Buches.

Dank an Peter Lange und Dank an den Prager Vitalis Verlag, dessen Programm vor allem durch seine Publikationen zu Franz Kafka und dessen Umfeld bestimmt ist.

Peter Lange: Prag empfing uns als Verwandte. Die Familie Mann und die Tschechen, Vitalis Verlag, Prag 2021, 384 Seiten, 29,90 Euro.