Die Dramaturgie der Mai-Ereignisse in und um die Semperoper hatte opernhafte Züge! Da lud das Haus am 8. Mai ein halbes Dutzend Kritiker ein, um an einer Premiere ohne Saalpublikum teilzunehmen, die dann ab Pfingsten über die Homepage des Hauses für jedermann zugänglich ist. Also endlich eine ernstzunehmende Beteiligung an den Bemühungen der Branche, zumindest digital präsent zu bleiben. Und das mit einem Richard Strauss’ „Capriccio“! Wegen solcher musikalischen Sternstunden gilt die Sächsische Staatskapelle als das Strauss-Orchester schlechthin und ihr derzeitiger Chefdirigent Christian Thielemann als der Statthalter des großen, eigensinnigen Spätromantikers auf Erden. Dessen 1942 uraufgeführtes Alterswerk war schon zwei Jahre danach das erste Mal in Dresden zu erleben. Zwei Nachkriegsinszenierungen folgten 1964 und 1993. In der etwas beiläufig unambitionierten Inszenierung von Jens-Daniel Herzog glänzte jetzt immerhin ein Protagonistenensemble der Spitzenklasse. Nikolay Borchev (Dichter Olivier) und Daniel Behle (Musiker Flamand) streiten um den Vorrang von Wort oder Musik in der Oper und um die Gunst der kunstliebenden Gräfin (fabelhaft: Camilla Nylund).
Alles in Allem ist dieses „Capriccio“ ist ein Zeichen der Hoffnung auf ein Ende der rigiden Beschränkungen der Kultur in Pandemiezeiten. Mit einem sichtlich entspannten Dirigenten und mit einem mit Freude und perfekt musizierenden Luxusklangkörper, endlich das lang ersehnte, eigenständig neu produzierte Stream-Angebot der Semperoper, die in der digitalen Behelfsopernwelt im Grunde abgetaucht war.
Kurz danach aber gab die zuständige Kulturministerin Barbara Klepsch (CDU) überraschend bekannt, dass der auslaufende Vertrag mit Christian Thielemann (62) nicht und der von Peter Theiler (64) nur um ein Jahr verlängert wird. Der Chefdirigent der Staatskapelle und der Intendant der Semperoper sind damit zum Ende der Spielzeit 2023/24 in Dresden raus.
Die erste Reaktion war – vor allem in Bezug auf den Dirigenten – die Frage, ob sie denn wisse, was sie tut. Thielemann hat nie den Ehrgeiz entwickelt, das Repertoire von A bis Z zu rocken. Seine musikalischen Vorlieben sind eindeutig und bekannt. Vor allem bei Werken von Richard Strauss und Richard Wagner läuft er mit der Staatskapelle zu der Hochform auf, die sie weltbekannt gemacht haben. Für Wagner hat Thielemann eine zweite Bühne bei den Bayreuther Festspielen. Wenngleich da in den nächsten Jahren keine übergroße Präsenz auf dem Plan steht und auch sein Vertrag als eine Art künstlerischer spiritus rector an der Seite von Katharina Wagner immer noch nicht unterschrieben ist. Die historische Übernahme der Position des Hausorchesters der Salzburger Osterfestspiele von den Berliner Philharmonikern durch seine Dresdner hat er allerdings wieder verspielt. Wenn man bei strittigen Personalhakeleien mit der Politik ein „mit-mir-nicht“ in den Raum stellt, muss man halt damit rechnen, dass die Volksvertreter und Kassenwarte sagen, „dann halt ohne dich“. So ähnlich lief das wohl in Salzburg ab, wo Thielemann Nikolaus Bachler als künftigen Osterfestspielintendanten nicht verhindern konnte. In Dresden war das, als Serge Dorny schon seine Planungen machte, noch anders. Der war schon wieder weg, bevor er noch richtig angekommen war. Der begehrte und innovative Opernmanager zog dann allerdings mit München das große Los, was Intendanzen in Deutschland betrifft.
Und damit sind wir schon mitten in der Überlegung, die sich nach der Verblüffung über die ministerielle Brüskierung eines Pultstars anschließt. Prinzipiell bleibt richtig, immer mal das Spitzenpersonal zu wechseln, um die Kreativität der Künstler mit Neuanfängen herauszufordern. An diese Binsenweisheit des Kulturbetriebes sollte man sich gerade dann erinnern, wenn aktuell eskalierende Befindlichkeitsdebatten letzten Endes (nicht nur im Schauspielhaus Düsseldorf) in die Forderung nach Quasi-Festeinstellungen münden …
An der Entscheidung des Ministeriums sind zwei Aspekte nicht zu kritisieren: Sie hat mit Blick auf eine Neubesetzung beider Positionen ab 2024/25 genügend Vorlauf, um nicht in Hektik zu verfallen und in Ruhe nach dem geeigneten Spitzenpersonal zu suchen. Zum anderen ist die Synchronisierung von Intendanz und Chefdirigent (oder GMD) bei dem außergewöhnlichen Gewicht, das die Sächsische Staatskapelle für das Renommee der Semperoper nun mal hat, nach gemachten Erfahrungen ohne vernünftige Alternative.
Um Oper erfolgreich in die nächsten Jahrzehnte zu führen und im weitesten Sinne für Neues zu öffnen, bedarf es der Erfahrung und des Wagemutes auf beiden Positionen. Da müssen zwei nicht nur an einem Strang ziehen, sondern auch in die gleiche Richtung. Sicher ist das zwar nie, aber die Wahrscheinlichkeit, dass es funktioniert, ist bei einem gemeinsamen Neustart allemal größer. Die Semperoper wird wohl nie eine Hochburg für experimentelles Regietheater im Hauptprogramm werden, sondern eine Attraktion für Touristen bleiben. Warum auch nicht. Aber allein das Zögern beim Einstieg in eine wahrnehmbare Onlinepräsenz während des letzten Jahres ist ein Argument für einen Neuanfang. Aber auch, dass sich Musiker der Staatskapelle (erfolglos) an ihre Pulte zurückklagen wollten und sich der Intendant und der meinungsfreudige Dirigent bei der Gelegenheit öffentlich in die Haare kriegten, spricht nicht für einen dauerhaft gut funktionierenden Maschinenraum im Tanker Semperoper. Was den Wagemut im Musiktheater betrifft, sollte sich das Haus beispielsweise mit den Opern in München, oder Frankfurt messen und mehr nationalen Ehrgeiz entwickeln. Falls Thielemann sich jetzt nicht beleidigt zurückzieht und sich nur noch die Rosinen rauspickt, die man ihm ohne Zweifel anbieten wird, dann hat die im Raum stehende Idee von einem Opernfestival unter seiner Ägide etwas sehr reizvolles. Richard-Strauss-Festspiele in Dresden. Mit den Opern, die dort uraufgeführt wurden, und dann mit allen anderen … Das würde garantiert funktionieren.
Bis zum Ende der Spielzeit ist „Capriccio“ als Streamingangebot der Semperoper über www.semperoper.de kostenlos abrufbar.
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