24. Jahrgang | Nummer 10 | 10. Mai 2021

Die Akte Fallada

von Mathias Iven

Es ist Freitag, der 18. September 1925. Knapp eine Woche hat die Odyssee gedauert. Durch halb Deutschland ist er gereist und hat das ihm von seinem Arbeitgeber anvertraute Geld mit vollen Händen ausgegeben. Es ist nicht das erste Mal, dass Hans Fallada eine Unterschlagung begangen und sich danach aus dem Staub gemacht hat. Doch dieses Mal ist alles anders. Um 23.15 Uhr, so ist es im Protokoll festgehalten, betritt er das Polizeipräsidium am Berliner Alexanderplatz, zeigt sich selbst an und wird festgenommen. Man überstellt ihn in das Untersuchungsgefängnis Moabit. Aus seiner Zelle schreibt er an seine Tante Adelaide Ditzen: „Ich habe unterschlagen, nicht, um Geld an mich zu bringen, sondern um eine lange Gefängnisstrafe zu erhalten. Ich sehe darin meine einzige Rettung.“ Was er damit meint, erklärt er dem Rowohlt-Lektor Paul Mayer, der ihn in der U-Haft besucht: „Die zwei Jahre, die mir gebühren, will ich durchhalten. Das ist für mich die endgültige Alkohol-Entziehungskur.“ Eine drastische Entscheidung, die letzthin jedoch nur einen begrenzten Erfolg haben wird.

Da Fallada zuletzt auf dem Gut des Reichsgrafen von Hahn im schleswigschen Neuhaus angestellt war, kommt er in die U-Haft nach Kiel und die dortige Staatsanwaltschaft übernimmt den Fall. Die Voruntersuchung befasst sich nicht nur mit den strafrechtlich relevanten Verfehlungen Falladas, sondern es wird auch ein Gutachten in Auftrag gegeben, das dessen Zurechnungsfähigkeit klären soll. Wusste man bis dato schon einiges über den Prozess, so schien doch gerade dieses Gutachten verloren gegangen zu sein. Dass es im Jahr 2018 aus den Tiefen der Bestände des Landesarchivs in Schleswig zutage gefördert wurde, kam einer kleinen Sensation gleich. Aufgespürt und erstmals ausgewertet hat es die Rechtsmedizinerin Johanna Preuß-Wössner.

Das Gutachten, das mehrere Leerstellen von Falladas Biographie füllt, ist Teil einer von Ernst Gustav Ziemke angelegten Akte. Ziemke, der seit 1906 als Professor für Gerichtliche und Soziale Medizin an der Kieler Universität lehrte und forschte, befasste sich zunächst ausführlich mit Falladas Vorgeschichte. So finden sich in dem Konvolut neben Abschriften von Teilen der Berliner Ermittlungsakte auch Kopien früherer psychiatrischer Gutachten. Zudem sind Ziemkes Gesprächsnotizen überliefert, in denen es unter anderem heißt: Fallada „sagt selbst, […] die bürgerlichen Begriffe Pflichttreue, Eigentum empörten ihn; er halte die Eigentumsbegriffe für ein brutales Unrecht“. In seinem dem Gericht vorgelegten Gutachten vom 14. Februar 1926 kam Ziemke zu dem Schluss, „dass wir in dem Angeschuldigten einen entarteten Psychopathen vor uns haben“. Am 26. März 1926 wurde Rudolf Ditzen alias Hans Fallada vom Landgericht Kiel wegen Unterschlagung in vier Fällen zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

In der Kieler Untersuchungshaft erhielt Fallada die Erlaubnis zu schriftstellerischer Tätigkeit. Seine Aufzeichnungen, mit denen er hoffte, den angerichteten finanziellen Schaden wiedergutmachen zu können, wurden – warum und wann auch immer – an Ziemke übergeben und somit Teil eines fast einhundert Jahre nicht beachteten Fallada-Dossiers. Was Fallada in den drei Wochen zwischen Urteilsverkündung und der Verlegung in das Zentralgefängnis Neumünster zu Papier brachte, kann man jetzt in einem reich kommentierten, von Johanna Preuß-Wössner und Peter Walther herausgegebenen Band nachlesen.

Konkret handelt es sich um fünf Erzählungen, von denen drei bereits 1993 und 2018 in anderer Textgestalt veröffentlicht wurden. Dazu gehört zum einen die Ich-Erzählung „Der Apparat der Liebe“, in der das Thema von Trieb und Herrschaft aus weiblicher Perspektive variiert wird, und die, so Walther, zugleich „ein Abbild der Liebeserfahrungen Falladas in jenen Jahren“ ist. Zum anderen haben wir dort unter dem Titel „Die große Liebe“ die Geschichte von Thilde und Fritz. Fallada hat darin die Konstellation der Ehe seines in Gudderitz auf Rügen lebenden langjährigen Freundes Johannes Kagelmacher nachempfunden. Und schließlich ist da der durch seinen starken Bezug auf gerade Erlebtes geprägte Text „Pogg, der Feigling“. Auf lediglich zehn Seiten erfahren wir alles über den an Falladas eigenes Leben erinnernden Werdegang des Julius Pogg. Auch er brennt mit der Kasse seines Arbeitgebers durch, auch er stellt sich selbst, auch er will für seine Tat büßen. Auf die Frage des Richters, warum er das getan habe, gibt es für Pogg allerdings nur eine Antwort: „Oh, Herr Amtsgerichtsrat, unterschätzen Sie nicht das prahlerische Glück, als ein großer Mann dazustehen.“

In Ziemkes Akte fanden sich aber auch noch zwei bisher gänzlich unbekannte Fallada-Texte. „Robinson im Gefängnis“ ist die Geschichte eines Gescheiterten, der in der Haftanstalt über seine Lage nachdenkt und diese mit dem Schicksal von Robinson Crusoe in Defoes gleichnamigem Roman vergleicht. Und Sybil Margoniner, die von allen nur Lilly genannte Hauptfigur der titelgebenden Erzählung des Bandes, deren Stärke es war, „durch Schwäche zu herrschen“, wird am Ende erkennen: Sie, „die herrschen wollte, ist zu einem Werkzeug gemacht worden, zu einem dummen, rohen Instrument wie die Nächstschlechteste“.

Da sich keine eindeutigen Anhaltspunkte für eine genaue Datierung finden lassen, stellt der Fallada-Biograph Peter Walther in seinem Nachwort zu Recht die Frage: „Sind die im Gutachten Ernst Ziemkes überlieferten fünf Erzählungen [in Kiel] entstanden? Oder hat sich der Gutachter die Manuskripte von der Ditzen-Familie bzw. vom Gutsverwalter Hoffmann aus Neuhaus schicken lassen?“

Wir werden es wohl nie erfahren. Sei’s drum. Viel wichtiger ist, dass es wieder einmal bisher Unbekanntes von Fallada zu entdecken gibt. Wozu auch der kurze, dem Band beigegebene Text „Wer kann da Richter sein?“ gehört, der zwar nicht Teil des Ziemke-Konvoluts ist, aber in durchaus enger inhaltlicher Verbindung zu den anderen Erzählungen steht und an dessen Ende es heißt: „Kein Urteil, das gefällt wird, wird endgiltig gefällt. Es kommt eine andere Generation, mit ihr ein anderes Denken. Und jede Generation hat ihre Hexenprozesse gehabt, und jede kommende wird sie haben.“ – Eine Feststellung, die wohl auch auf zahlreiche der aktuellen Debatten zutrifft.

Hans Fallada: Lilly und ihr Sklave. Herausgegeben von Johanna Preuß-Wössner und Peter Walther, Aufbau Verlag, Berlin 2021, 269 Seiten, 22,00 Euro.