Es ist ruhig geworden in Polen – nicht allein der herrschenden Pandemie wegen. Nach den kräftezehrenden Stürmen und Schlachten des letzten Jahres ist es, als zählten alle jetzt die eigenen Reihen. Das betrifft in erster Linie das nationalkonservative Regierungslager, doch auch die demokratische Opposition ist betroffen. Niemand hatte das letzte Jahr ungerupft überstanden, auch wenn die Tendenzen eher der Opposition entgegenzukommen scheinen. Zunächst schafften es die Regierenden nur mit Ach und Krach, bei den Präsidentschaftswahlen den Amtsinhaber Andrzej Duda im Amt zu halten, nachdem der liberale Herausforderer Rafał Trzaskowski im Juni und Juli eine kaum für möglich gehaltene Mobilisierung erreicht hatte. Im Oktober schließlich drohte ein heftiger und das ganze Land erfassender Frauenaufstand, den Jarosław Kaczyński mit unbeschreiblicher politischer Dreistigkeit heraufbeschworen hatte, das Regierungslager wegzuspülen. Noch nie war auf den Straßen und Plätzen so aufrührerisch gefordert worden: Nieder mit der Kaczyński-Regierung!
Wären diese beiden Oppositionswellen zeitlich zusammengefallen, nichts wäre heute noch übrig von Kaczyńskis einstiger Herrlichkeit. Der sich gerne als starker Mann Polens verstehende Politiker wackelte entsprechend, doch er fiel nicht. Allerdings ist er in einem Maße gerupft, dass ihm augenblicklich die Lust vergangen zu sein scheint, den Gegner anzugreifen und zu beißen. Außerdem droht das von ihm zusammengehaltene Regierungslager zusammenzubrechen, sobald jähe Wendungen erforderlich würden. Sicher wähnt man sich allenfalls noch in den geschützten Amtsstuben und Regierungssesseln, für große politische Gefechte draußen im windig gewordenen Land scheint die Kraft verloren. Jetzt sucht Kaczyński die widerspenstigen Flügel im nationaldemokratischen Block zu stutzen, denn sie tragen weniger und wollen obendrein in Richtungen fliegen, die für das Kaczyński-Lager gefährlich werden könnten. Also droht er den kleineren Regierungspartnern – einerseits am rechten Rand und andererseits im gemäßigten Fahrwasser –, die ohne die Kaczyński-Partei nie ins Parlament gekommen wären, sie notfalls fallen zu lassen und künftig die nationalkonservative Fahne wieder ganz alleine als Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) in den Wind zu halten. Kaczyńskis ernst gemeinte Drohung, vorzeitige Parlamentswahlen zu riskieren, gilt also seinen Flügeln, nicht der Opposition. Und er weiß um die Umfragewerte, die das nationalkonservative Lager nicht mehr weit über der 30-Prozent-Marke notieren.
Vom Trzaskowski-Effekt, von dem man sich auf der Gegenseite im letzten Sommer noch einiges versprochen hatte, ist nach fast einem Jahr wenig übriggeblieben. Die liberal-konservative Opposition im Parlament, die als Bürgerkoalition firmiert, wirkt ebenfalls gefangen zwischen den widerstreitenden Flügeln: einerseits ein nicht zu übersehender linksliberaler Flügelschlag, anderseits aber das bigotte Einknicken gegenüber dem als mächtig empfundenen Willen der katholischen Kirche in der Abtreibungsfrage. In der Folge hat sich außerparlamentarisch eine rechtsliberale Strömung gestärkt, die von dem Fernsehmann Szymon Hołownia angeführt wird und der Bürgerkoalition die Führung in der Opposition streitig zu machen beginnt. Zudem gelingt es Hołownia, abtrünnige Parlamentarier, die der inneren Kämpfe bei den Bürgerlichen müde geworden sind, unter eigenes Parteischild zu bringen. Sieht man es positiv, so kommen beide Oppositionsgruppen im bürgerlichen Spektrum momentan zusammengerechnet auf Werte, die bereits deutlich über denen der Kaczyński-Partei liegen.
Die in einer Parlamentsfraktion zusammengehenden Linkskräfte im Land – von linksdemokratisch bis linksalternativ – werden eine gemischte Rechnung aufmachen, wenn sie auf das vergangene Jahr zurückschauen. Bei den Präsidentschaftswahlen war Robert Biedroń, der gemeinsame Kandidat, völlig unter die Räder gekommen. In der missglückten Kampagne erinnerte er in nichts mehr an den Strahlemann, der 2017 oder 2018 noch als Hoffnungsträger im Oppositionslager gehandelt worden war. Andererseits sah man sich bei den Frauenprotesten völlig bestätigt, zeigte sich gleichermaßen entschlossen wie geschlossen und unterstützte die Protestwelle vorbehaltlos. In jetzigen Umfragen werden den Linkskräften zwar stabile 10 Prozent attestiert, allerdings zeichnet sich auch keine Entwicklung ab, mit der dieser Wert deutlicher verbessert werden könnte. Ob der Schritt fruchten wird, der im Schatten tiefer Pandemie nun vollzogen wurde, wird sich erst zeigen: Die Linksdemokraten (SLD) und die von Biedroń geführte grün-alternative Bewegung „Wiosna“ (Frühling) haben sich organisatorisch zusammengetan, treten ab jetzt als eine „Neue Linke“ auf und wollen im Mai auf einem Parteikongress die künftigen, weitgehend paritätisch besetzten Strukturen klären. So wird es beispielsweise zwei Parteivorsitzende geben. Der dritte Pfeiler im parlamentarischen Linksbündnis, die linksalternative Partei Razem (Zusammen), bleibt einstweilen draußen, stellt aber das Bündnis im Parlament nicht in Frage.
Abgerundet wird der Blick über die politische Landschaft am ganz rechten Rand mit den Nationalisten und offenen Faschisten, die – wenn man den stramm-rechten Flügel der Nationalkonservativen hinzurechnet – auf bedrohliche 10 bis 15 Prozent kommen würden. Allerdings gleicht dieses Lager einem wilden, zerstrittenen Haufen, der die offene Aktion sucht und braucht, um insbesondere im Spektrum der jüngeren Wählerschichten fischen zu können.
Fast in der Mitte strampeln noch die wackeren oder gemäßigten Agrarier der PSL, die sich mit vielerlei klugen und weniger klugen Mitteln tapfer gegen den bereits oft prognostizierten Untergang wehren. Im ländlichen Bereich stellen sie noch immer eine Kraft dar, die der Kaczyński-Partei auf diesem kirchengläubigen Terrain wenigstens Paroli bieten kann. Landesweit werden meistens um die 5 Prozent notiert.
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