24. Jahrgang | Nummer 8 | 12. April 2021

„New Deal“ in den USA – Rückkehr des Keynesianismus?

von Jürgen Leibiger

Vor einiger Zeit schrieb ich in dem Beitrag „40 Jahre Neoliberalismus“ (Blättchen 24/2019), manchem Strategen des Kapitals komme angesichts krisenhaft zugespitzter Problemlagen der Sieg des Neoliberalismus heute eher wie ein Pyrrhussieg vor, man begänne deshalb, über wirtschaftspolitische Alternativen nachzudenken. Wird das jetzt schneller als gedacht Wirklichkeit? Im „neuen Systemwettbewerb“ setzt der Westen nicht so sehr auf Marktkräfte und Freihandel, sondern auf rigorose staatliche Einmischung in den internationalen Handel und das Investitionsgeschehen. Wenngleich in manchen Artikeln die britischen und US-amerikanischen Erfolge bei den Corona-Impfungen als Sieg einer marktorientierten Strategie im Vergleich zur deutschen Bürokratie gefeiert werden, so ist doch längst klar, dass in der Pandemie nicht der Markt, sondern der Staat gefordert ist. Vor wenigen Tagen hat USA-Präsident Joe Biden – ein Bewunderer John D. Roosevelts und dessen New Deal – seinen „American Rescue Plan Act of 2021“, ein 1,9 Billionen Dollar schweres Konjunkturprogramm, durch den Kongress gebracht. Damit würden die „vier Jahrzehnte der Reagonomics beendet“, schrieb der britische Guardian. Sind wir also Zeugen einer Wende vom neoliberalen zum „keynesianischen“ Kapitalismus?

Vorausgeschickt sei: Gemessen an den Beträgen, die von der Trump-Regierung zur Bekämpfung der Pandemie eingesetzt wurden, sind Bidens 1,9 Billionen – knapp zehn Prozent im Vergleich zum US-amerikanischen Bruttoinlandsprodukt – gar nicht so viel. Die verschieden ausgerichteten Programme zwischen März und Dezember 2020 umfassten mehr als das Doppelte. Und Bidens propagandistisches Highlight, der 1400-Dollar-Scheck für jeden Bürger, trägt zwar nicht wie Donald Trumps 600-Dollar-Scheck dessen Unterschrift, der Betrag entspricht aber genau der Differenz zu den im Jahr 2020 eigentlich auch von Trump geforderten 2000 Dollar pro US-Amerikaner. Diese Summe hatten ursprünglich die Demokraten ins Spiel gebracht, sie war aber von der damaligen republikanischen Mehrheit im Kongress abgelehnt worden. Trump wollte gegen das abgespeckte Programm zuerst sein Veto einlegen, der Betrag von 600 Dollar sei „lächerlich niedrig“, beugte sich aber angesichts der drohenden Haushaltsperre den Forderungen seiner Partei. Insgesamt betrieb schon die Trump-Administration wie viele andere Regierungen eine massive Defizit-Spending-Politik und erhöhte 2020 die Staatsverschuldung um fast 4 Billionen Dollar auf 131 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Die Pläne der neuen Regierung in Washington sind ehrgeizig. Die Riesensummen sollen nicht wie in der letzten Krise an die großen Konzerne und Banken fließen, sondern mittels der 1400-Dollar-Schecks und der Hilfen für Arbeitnehmer, Arbeitslose und ärmere Familien die Konsumnachfrage steigern. Und sie sollen in das Gesundheits- und Bildungswesen fließen. Allen Maßnahmen wohnt trotz ihrer zeitlichen Begrenzung ein starkes soziales Moment inne. Die Republikanische Partei, obwohl sie sich unter Trump als eine Art neuer Arbeiterpartei geriert hatte, lief entsprechend Sturm dagegen. In Gestalt eines Kurssprungs begrüßte die Wall Street das Programm, verspricht es doch eine zumindest zeitweilige Überbrückung des Nachfragemangels. Vielleicht lag das aber auch daran, dass die Demokraten die ursprünglich geplante Aufstockung des Mindestlohns auf 15 Dollar nach massiven Forderungen der Wirtschaftslobby wieder gestrichen hatten.

Um den wirtschaftspolitischen Umschwung und das Wachstum in der Nach-Corona-Ära zu verstetigen, will Biden in den nächsten Jahren weitere  Billionen in die Sanierung der Infrastruktur, in erneuerbare Energien und das Bildungssystem investieren. Das Programm soll weniger schulden- als steuerfinanziert sein. Dazu soll die Besteuerung von Unternehmen und hohen Einkommen wieder angehoben werden, womit auch die verteilungspolitische Schieflage etwas korrigiert würde. Finanzministerin Janet Yellen, früher Chefin der Zentralbank, hat einen scharfen Kurs gegen Steuerflucht und -hinterziehung vor allem der Reichen angekündigt.

Vieles, was Biden und seine Leute vorhaben, erinnert an den New Deal der 1930er Jahre. John Maynard Keynes hatte Roosevelt in einem offenen Brief seinerzeit sogar aufgefordert, die Programme weiter aufzustocken. Auch deshalb werden solche Maßnahmen oft mit seinem Namen in Verbindung gebracht. Freilich darf nicht vergessen werden, dass es auch in den Jahrzehnten vor Biden und gerade in der Ära des Neoliberalismus eine massive Schuldenerhöhung gegeben hatte. Die Schuldenquoten waren in den meisten Staaten zwischen 1980 und 2007, also noch vor der Weltwirtschaftskrise, enorm gestiegen; in den USA von 40 auf 65 und in Deutschland von 35 auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In der Krise gab es dann massive, kreditfinanzierte Konjunkturprogramme. Als die Regierung Merkel im Herbst 2008 zögerte, ein solches Programm aufzulegen, wurde ihr aus dem Ausland der Vorwurf der „Beggar-thy-Neighbor-Politik“, die Realisierung von Exportüberschüssen zu Lasten der Handelspartner, gemacht. Unter der Überschrift „Where’s Angela?“ forderte die britische Presse einen deutschen Beitrag zur nachfrageorientierten Konjunkturpolitik. Angela Merkel beugte sich schließlich und legte ebenfalls ein schuldenfinanziertes Stützungsprogramm auf. Auch die Bankenrettung und die Verstaatlichungspolitik standen im eklatanten Widerspruch zur neoliberalen Propaganda. Zweifellos stellt Bidens Politik, so er sie durchzuhalten vermag, einen Einschnitt dar, aber aus diesem historischen Blickwinkel ist sie erst einmal nur eine andere Variante des US-amerikanischen Pragmatismus. Ob sie eine ähnlich historische Bedeutung wie Roosevelts New Deal haben wird, bleibt abzuwarten.

Blicken wir noch einmal auf Deutschland zurück: Wolfgang Schäuble wurde zu Zeiten der Griechenlandkrise ob seiner Sparpolitik und der Favorisierung der „schwarzen Null“ als typisch neoliberaler Finanzminister verschrien. Als er 2009 vom Innen- ins Finanzministerium umzog, schrieb die Frankfurter Rundschau jedoch, nun ziehe „Keynes ins Finanzministerium ein“. Schäuble hatte sich damals für einen Politik-Mix ausgesprochen und geäußert: „Neben der klassischen Angebotsorientierung gehört dazu eben auch eine starke Nachfragepolitik. Wir müssen umdenken – ja sogar durchaus keynesianisch.” Mit einer gewissen geistigen Trägheit wird heute oft am linken Verdikt des vermeintlich „neoliberalen“ Kapitalismus festgehalten. Das hat eine Ursache auch darin, dass nicht wenige Linke sich eher zum Reformer Keynes, seiner Marktkritik und seiner rational begründeten Konjunkturpolitik hingezogen fühlen. Vielleicht vergessen sie dabei, dass es zum Beispiel schon einmal einen „keynesianischen Kapitalismus“ in Gestalt des Rüstungskeynesianismus gegeben hat. Sich selbst sah Keynes ausdrücklich nicht an der Seite der britischen Labour Party, sondern auf Seiten „der gebildeten Bourgeoisie“. Und die Konservative Partei kritisierte er, sie sei unfähig, „neue Maßnahmen zum Schutz des Kapitalismus von dem zu unterscheiden, was sie Bolschewismus nennen“. Linke sollten, auch wenn sie „Bolschewismus“ durch „Sozialismus“ ersetzen, nicht in den gleichen Fehler verfallen. Natürlich werden nicht wenige Interessenvertreter des Kapitals weiterhin die „Segnungen“ einer „freien Marktwirtschaft“ propagieren und soziale Leistungen als „Sozialklimbim“ verunglimpfen. Aber in der Praxis werden ideologische Leitplanken schon mal beiseite geräumt, wenn Gewinne winken oder systemische Krisen drohen. Profitmachen im „kommunistischen“ China? Die Ölscheichs der Diktaturen im Nahen Osten hofieren? Alles kein Problem. Und obwohl Schäuble der Architekt diktatorischer Sparauflagen gegen Griechenland war, brachte er auch einen teilweisen Schuldenschnitt auf den Weg. Für Karl Marx war so etwas die ultimativ proletarische Forderung an die Finanzpolitik seiner Zeit. Es ist zu wünschen, dass Bidens Politik wirklich den sozial Schwächeren zugutekommt und den wirtschaftlichen Absturz dämpft, auch wenn es da einen Hintergedanken geben mag. In einem Spiegel-Interview begründete Schäuble seinen Politik-Mix damals mit den Worten: „Was wäre gewesen, wenn uns in einem der Länder eine Revolution ausgebrochen wäre?“