von Jürgen Leibiger
Margret Thatcher wurde 1979 Premierministerin des Vereinigten Königreichs, Ronald Reagan zog 1981 als US-Präsident in das Weiße Haus ein, Helmut Kohl übernahm 1982 die Kanzlerschaft. Diesen Daten und Namen stehen für den Beginn der Dominanz neoliberaler Wirtschaftsstrategien in drei führenden Staaten des Westens. Ihre nationalen Ausprägungen waren der Thatcherismus, die Reaganomics und Kohls „Bonner Wende“.
Ihr markantestes Motto lautete „Mehr Markt, weniger Staat“, und konkret ging es um Steuersenkungen, Sozialabbau und Privatisierungen, um das Zurückdrängen gewerkschaftlicher Macht und um die Stärkung der Angebotsseite der Wirtschaft, sprich der Gewinne und Investitionen. Diese Neuorientierung, so das Versprechen, würde die Wachstumskräfte entfesseln und den allgemeinen Wohlstand erhöhen. Ronald Reagans Wirtschaftsberater hatten eine „trickle-down-economics“ im Hinterkopf, wenn sie versprachen, der wachsende Reichtum der Oberschicht werde auch den Ärmeren zugutekommen. Georg Gilder postulierte in seiner, als „Rezeptbuch Reagans“ apostrophierten Arbeit „Reichtum und Armut“, das Beste, was man gegen die Armut tun könne, sei die Absenkung der Steuern für die Reichen. Und Arthur Laffer, noch ein Guru des Marktradikalismus, versprach, niedrigere Steuersätze würden ein so starkes Wachstum initiieren, dass die Steuereinnahmen trotz der niedrigeren Sätze steigen würden, eine Idee, der Reagan prompt folgte, allerdings mit verheerenden Folgen für den US-Haushalt. Margret Thatcher forderte ihre Kabinettsmitglieder damals auf, die Arbeiten Friedrich von Hayeks, dem Haupt des Neoliberalismus, der die Forderung nach „sozialer Gerechtigkeit“ als die „schwerste Bedrohung“ der Zivilisation bezeichnete, zu lesen. In der Bundesrepublik wurde die kapitalfreundliche Strategie nicht ganz so unverblümt vertreten, aber das sogenannte Lambsdorff-Papier des FDP-Wirtschaftsministers, dessen Autorenschaft eigentlich beim späteren Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer liegt, und das für die SPD-FDP-Koalition unter Helmut Schmidt 1982 das „Scheidungspapier“ – so Schmidt – war, ließ an Klarheit, wohin die „Bonner Wende“ führen sollte, nichts zu wünschen übrig.
Heute ist oft zu hören, der Neoliberalismus sei gescheitert. Aber stimmt das wirklich? Kommt es nicht darauf an, woran Erfolg oder Scheitern gemessen werden? Trotz der schweren ökonomischen Krisen, die in den bisher vierzig Jahren neoliberaler Vorherrschaft die Wirtschaft erschütterten, hat sich diese Strategie für die Kapitalseite insgesamt gelohnt. Die Gewerkschaften haben deutlich an Macht eingebüßt, der Arbeitnehmeranteil am Volkseinkommen ist zurückgegangen, der Anteil der Gewinn- und Vermögenseinkommen gestiegen. Wichtige, vormals öffentliche Bereiche wurden privatisiert und die Steuern auf Vermögen und hohe Einkommen sowie für die Unternehmen wurden gesenkt. Infolge all dieser Maßnahmen hat sich der Grad der Kapitalverwertung, der bis Ende der 1970er Jahre gesunken war, wieder stabilisiert und ist sogar gestiegen. Die Börsenkurse, die bis zu Beginn der 1980er Jahre nur verhalten gewachsen waren, sind seitdem geradezu explodiert. Pendelte der DAX zwischen 1960 und 1980 gerademal um die Marke von 500 Indexpunkten, so schoss er seit 1983 trotz zwischenzeitlicher Einbrüche auf einen Wert von über 13000. Die Zahl der Dollar-Milliardäre verzehnfachte sich weltweit seit den 1980er Jahren. Zeugt all das nicht etwa vom vollen Erfolg der neoliberalen Wirtschaftsstrategie?
Wer sich an das Versprechen eines „Trickle-down-Effekts“ hält, muss allerdings von einem Desaster sprechen. Nehmen wir Deutschland als Beispiel. Zwar ist das durchschnittliche reale Pro-Kopf-Einkommen gestiegen, aber die realen Nettoeinkommen der unteren Schichten blieben zurück. Der nationale Wohlfahrtsindex und die Lebenszufriedenheit haben sich von der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts abgekoppelt und wachsen nicht mehr mit. Die Einkommens- und Vermögensschere hat sich dramatisch geöffnet. Die Zahl der prekär Beschäftigten und der Armen ist gestiegen. Die Arbeitslosigkeit hat in den 80er, 90er und 00er Jahre immer neue Rekorde erklommen und hat die Betroffenen nicht nur Lebensqualität gekostet, sie ist neben der Absenkung des Rentenwerts eine weitere Basis für niedrige Renten und steigende Altersarmut. Die Infrastruktur ist überaltert; der Investitionsrückstand liegt bei 138 Milliarden Euro, doppelt so hoch wie ein Jahresbetrag der öffentlichen Investitionen. Im Gegensatz zu den Versprechen sind die Investitionsquoten in der neoliberalen Ära gesunken und die Arbeitslosigkeit führte zur Stilllegung eines gigantischen Produktionspotenzials. Allein die gegenwärtig knapp 2,5 Millionen Arbeitslosen verursachen fiskalische Kosten von über 50 Milliarden Euro, die an anderer Stelle fehlen. Ohne diese Arbeitslosigkeit könnte das Bruttoinlandsprodukt um 5 Prozent höher sein; und das ist nur ein Jahr bei zudem vergleichsweise niedriger Arbeitslosenquote! Das infolge der Wirtschaftskrise von 2007–2009 (die auch wegen der Deregulierung der Finanzmärkte so schwer ausfiel) entgangene Bruttoinlandsprodukt beträgt über die Jahre – so eine Berechnung von Sebastian Dullien – das Mehrfache eines jährlichen BIP.
Kernforderungen der neoliberalen Strategen waren „weniger Staat“ und sinkende Staatsverschuldung. Dabei sind sie kläglich gescheitert. Zwar wurden der Sozialstaat und bestimmte Marktbeschränkungen, zum Beispiel für die Finanzmärkte, abgebaut, aber ansonsten hat sich die Regelungsdichte nicht verringert. Und für viele von Sozialeinkommen Abhängige hat sie sich in unerträglicher Weise erhöht. Die Staatsquoten liegen etwa auf dem gleichen Niveau wie zu Beginn der 80er Jahre, teilweise sind sie sogar höher; Staatsverschuldung und Schuldenquoten sind enorm angewachsen. In Deutschland mag daran die Art und Weise, wie die Angliederung des Ostens vollzogen wurde, seinen Anteil haben, aber das gilt wohl kaum für die anderen Länder des Westens. Kohl hatte eine Schuldenquote von 30 Prozent übernommen; sie war noch vor 1990 auf 40 Prozent gestiegen und liegt heute, nach zwischenzeitlichen 80 Prozent bei einem Wert von 60.
Welche dieser Entwicklungen dem Wesen des Kapitalismus geschuldet sind und welche aus der Spezifik der neoliberalen Wirtschaftsstrategie entspringen, kann hier nicht weiter thematisiert werden. In anderen Ländern, unter anderen Bedingungen und Kräfteverhältnissen waren und sind andere Strategievarianten mit anderen Folgen realisiert worden; Fatalismus wäre also fehl am Platze. Und sie beruhen auch nicht primär auf persönlichen Eigenschaften und Auffassungen ihrer Exponenten. Die Durchsetzung der neoliberalen Strategie war seit den 1970er Jahren möglich geworden, weil in der Rekonstruktionsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Macht des Großkapitals rekonstruiert worden war und sich nunmehr unter den Bedingungen der Globalisierung verstärkt Geltung verschaffte. Die Internationalisierung konnte als Druckmittel gegen die Gewerkschaften und den Sozialstaat eingesetzt werden. Im Gefolge des wirtschaftlichen Strukturwandels waren viele der traditionellen, industriellen Hochburgen gewerkschaftlicher Macht geschleift worden und nach 1990 war dann ein Systemkonkurrent untergegangen.
Inzwischen freilich sind selbst in der Mainstream-Presse Stimmen zu hören, wonach der Sieg des Neoliberalismus – manche sprechen sogar vom Kapitalismus überhaupt – ein Pyrrhussieg gewesen sei. Die gesellschaftlichen Spaltungen und die pessimistische Zukunftserwartung großer Teile der Bevölkerung haben zu einem Stimmungsumschwung und einem Aufweichen der Machtposition bisher dominierender politischer Kräfte und Parteien geführt. Und manchem Wirtschaftsstrategen schwant womöglich, dass wirtschaftliche Labilität und Krisenanfälligkeit sowie der Aufstieg internationaler Konkurrenten nicht mit einem weiteren „Mehr Markt, weniger Staat“ bekämpft werden können. Als es in der jüngsten Weltwirtschaftskrise um die Rettung des Großkapitals ging, hatte man ja schon einmal Teile der marktradikalen Politik suspendiert. Wohin das Pendel heute schlagen wird, ist angesichts der komplizierten Gemengelage nicht ausgemacht. Aber mit Blick auf die drei Länder, von denen hier die Rede war, verbietet sich für einen Linken wohl jeder Zweckoptimismus: Es könnte auch schlimmer kommen. Friedrich Merz jedenfalls forderte „Mehr Kapitalismus wagen.“
Schlagwörter: Bonner Wende, Jürgen Leibiger, Kapitalismus, Reaganomics, Thatcherismus, Weltwirtschaftskrise