Oskar Niedermayer hat im Sommer 2020 die deutschen Parteien analysiert. Die Zahlen sind aufschlussreich. Der LINKEN wird gerne vorgeworfen, sie werde von alten Leuten des Ostens getragen. Das ist Unsinn. Die West-Ost-Relation ist inzwischen einigermaßen ausgeglichen (29.624 zu 30.716; stärkster Landesverband ist nicht mehr Sachsen, sondern NRW mit 8.840 Mitgliedern). Der Anteil der über 60-Jährigen beträgt in der Partei derzeit 44 Prozent. Das sieht angesichts eines Anteils von 31 Prozent der Älteren an der Gesamtbevölkerung ab 14 Jahre nach starker Überalterung aus. Aber bei den anderen ist es schlimmer: CSU 50, CDU 53, SPD 56. Nur die FDP liegt einigermaßen im Durchschnitt, deutlich drunter allerdings die Grünen (24).
Ein Indiz für die Verankerung einer Partei in der Gesellschaft, mithin für die mögliche Nachhaltigkeit bei der Durchsetzung ihrer politischen Strategie, ist ihre Mitgliederzahl. Für die LINKE ein Problem. Mit rund 60.350 Mitgliedern liegt sie im Parteienranking auf dem vorletzten Platz vor der AfD. Die von linken Politikern immer als überflüssige Randexistenz eingestufte FDP hat 66.000 Mitglieder. Selbst die auf Bayern beschränkte CSU bringt es auf mehr als den doppelten Wert. Und der Mitgliederschwund? Der ist real, aber nicht dramatischer als bei den anderen: Die SPD verlor seit 2017 39.000 Mitglieder, die CDU 28.000, die CSU 4000, DIE LINKE „nur“ 2000. Beinahe atemberaubend hingegen der Mitgliederanstieg bei den Grünen: seit 2017 um mehr als ein Drittel der bisherigen Mitgliedschaft.
Den Unterschied macht die soziale Zusammensetzung. Wer nun meint, eine linke Partei wäre per definitionem eine Arbeiterpartei, steckt mental in den Zeiten von Vater Bebel fest. Der Arbeiteranteil in der SPD beträgt gerade noch 16 Prozent, 73 Prozent der Mitgliedschaft sind Angestellte oder irgendwie im öffentlichen Dienst verankert. Hochschulabschluss haben inzwischen 41 Prozent aller Sozialdemokraten. Eine Partei der working class – ich benutze absichtsvoll das englische Wort, im Deutschen gilt es inzwischen als so etwas von gestern … – ist die SPD schon lange nicht mehr. Und DIE LINKE? 51 Prozent Hochschulabsolventen stehen 17 Prozent Mitglieder aus der Arbeiterschaft gegenüber. 67 Prozent sind Angestellte oder im öffentlichen Dienst tätig. Das sind – mit Ausnahme des Arbeiteranteils – höhere Werte als sie selbst die CDU aufweist. Extremer ist die Entfernung von der working class nur noch bei den Grünen. Um das Ganze einordnen zu können: Nur 36 Prozent aller Deutschen haben einen Hochschulabschluss. Weiter als die beiden linken Parteien kann man sich nicht von den Menschen entfernen, für die einzutreten man vorgibt.
Wenn man es denn überhaupt noch will. Für linke Parteien war die Umkrempelung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit immer die programmatische Bedingung, ohne die nichts geht. Im „Erfurter Programm“ (2011) der LINKEN liest sich das unter anderem so: „Erwerbsarbeit kann Quelle von Selbstverwirklichung sein, aber für viele beginnt Selbstverwirklichung außerhalb ihrer Arbeitsverhältnisse.“ Solch gequirlten Quatsch kann nur verzapfen, wer sein Brot nicht mit der eigenen Hände Arbeit verdient. Dann folgen gespreizte Darstellungen, was man unter „guter Arbeit“ (der Begriff ist mehr Theologie denn Ökonomie) versteht. Das geht über die üblichen DGB-Ansätze kaum hinaus, allenfalls im Zahlenwerk („Die Managergehälter müssen auf das 20-fache der untersten Lohngruppen im Unternehmen begrenzt […] werden“). Das hat mit Marx nichts mehr zu tun. Das hat Erstsemester-Lesezirkel-Qualität. Christian Baron bezeichnete diese Sorte schwurbelnder Politiker dieser Tage im Freitag als „sprechende Aktenordner“.
Andreas Wehr – durchaus Kenner diverser linker „Politik-Ansätze“ zwischen Berlin und Brüssel – brachte das vor wenigen Tagen für das Online-Magazin Telepolis auf den Punkt: „Die Partei Die Linke ist unwiederbringlich auf dem Weg, eine ökolibertäre Partei der urbanen akademischen Mittelschichten zu werden, die anschlussfähig für SPD und Grüne ist.“
Wehr spricht übrigens von „anschlussfähig“, nicht von „koalitionsfähig“. Das ist ein Unterschied. Koalitionsfähig wäre DIE LINKE inzwischen – zumindest im Falle einiger Bundesländer – selbst mit der CDU, wenn die nicht andauernd auf der blutverschmierten Dauerwalstatt halbgebildeter Parteipolitiker, der Geschichte, ausrutschen würde.
Allerdings hat Wehrs Urteilsspruch über die eigene Partei ein leichtes Geschmäckle. Er schwang seinen roten Schmiedehammer nach dem jüngsten Linken-Online-Parteitag am 26. Februar 2021, auf dem das farblose Führungsduo Riexinger-Kipping von der Frauen-Doppelspitze Janine Wissler und Susanne Hennig-Welsow abgelöst wurde. Beide Fraktionsvorsitzende ihrer Landtagsfraktionen in Hessen beziehungsweise in Thüringen. Hennig-Welsow führte eine Regierungsfraktion, Wissler hatte zumindest den Ruf einer Vertreterin des linken Flügels der Partei (Netzwerk Marx21, Sozialistische Linke …). Ihre Mitarbeit in diesen Zusammenhängen kündigte sie im Vorfeld des Parteitages auf, Hennig-Welsow hielt sich strömungsmäßig in den letzten Jahren öffentlich zurück. Allerdings pfeifen es alle Spatzen von den Erfurter Dächern, dass dort ohne das Forum Demokratischer Sozialismus nichts geht. Also wirklich ein Aufbruch bei der LINKEN, wie es die Parteitagsdekoration suggerierte?
Das Gegenteil ist der Fall. Die Parteiführung wurde in der zweiten Reihe gründlich umgebaut. Es ist weniger das Gerangel um die Vizevorsitzenden. Die Nicht-Wahl von Matthias Höhn, der im Vorfeld einen außenpolitischen Richtungswechsel forderte, ist es weniger, die das deutlich macht. Die ihm politisch nahestehende Berliner Landesvorsitzende Katina Schubert – eine erfahrene Strippenzieherin – wurde Vizevorsitzende. Das gleicht das aus. Vollständig aus dem Vorstand hinausexpediert hingegen wurden die Kommunistische Plattform (KPF), die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Hartz IV, die Sozialistische Linke (SL) und die bislang sakrosankte Arbeitsgemeinschaft Cuba Sí. Das ist das Projekt Herstellung der Anschlussfähigkeit. 20 von 44 Vorstandsposten sind von Mitgliedern der „Bewegungslinken“ besetzt worden, einer 2018 gegründeten Gruppierung, die eine „verbindende Klassenpolitik“ betreiben möchte. Auch Wissler war da aktiv. Im Kern läuft es auf das berühmte Tucholsky-Bonmot hinaus: „Es is so ein beruhjendes Jefiehl. Man tut wat for de Revolutzjon, aber man weeß janz jenau: mit diese Pachtei kommt se nich.“
Und nun? Die SL leckt die Wunden und ist zerknirscht. „Uns bereitet Sorge, dass die LINKE ihr Profil als milieuübergreifende Partei verliert und sich zunehmend auf einzelne Milieus verengt“, so ihre Erklärung vom 4. März. Die wie üblich innerparteilich konfliktscheue KPF will im April „eine umfänglichere Auswertung des Parteitages vornehmen“ und wahrscheinlich beschließen, eine Senioren-Bahnsteigkarte zu erwerben, „um alles dafür zu tun, die friedenspolitischen Grundsätze zu bewahren“. So teilte es jedenfalls die junge Welt der erwartungsfrohen Arbeiterklasse – pfui, nun habe ich’s doch gesagt … – mit. Inzwischen spielen die auf dem Parteitag Unterlegenen unverhohlen mit dem Gedanken einer neuen Parteigründung. So parlierte Harri Grünberg/Cuba Sí auf Facebook „ob man nicht über eine neue Partei nachdenken sollte, falls sich alle anderen Möglichkeiten verschließen“. Timo Lehmann (spiegel.de) kleisterte daraus gleich eine Position des „Wagenknecht-Lagers“ zusammen. Ebenfalls auf Facebook konterten die auch sonst nicht besonders fein gestrickten Wagenknecht-Gegner: „Die können doch den Strasser-Flügel der AfD ausbauen.“ Das ist O-Ton, so laufen die Auseinandersetzungen unterhalb des Levels der weichgespülten Presseerklärungen der Partei. Alles Faschos, außer man selbst. Da ist noch einiges zu erwarten. Spätestens nach den Wahlen im September. Für DIE LINKE sieht es nicht nach einem glücklichen Herbst aus.
Vor vielen Jahren stellte einer ihrer Chefpolitiker die Frage nach dem Gebrauchswert politischer Parteien und meinte, die seine wäre eine für den Alltag, nicht nur für den Wahltag. Schaute er heute etwas intensiver in den Partei-Spiegel und weniger in die Kameras, müsste er feststellen, dass der LINKEN genau dieser Gebrauchswert abhandenkam. Mehr als ein verballhorntes „Rückwärts immer“ des berühmten Generalsekretärs scheint im Moment nicht möglich zu sein.Fazit: Löst den Laden auf. Seht zu, dass ihr eure „Anschlüsse“ sauber hinkriegt.
Ein aufgeräumtes Feld lässt sich besser beackern.
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